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Die Zeichen des Zerfalls

Von Thomas Seifert

Politik
Sighard Neckel, fotografiert bei seinem Besuch in Wien vor dem Café "Engländer".
© T. Seifert

Die tragenden Säulen unserer Institutionen und unserer Lebensformen geraten ins Wanken, sagt Soziologe Sighard Neckel.


"Wiener Zeitung": Herr Neckel, Sie beschäftigen sich mit dem Zerfall von Ordnung. Sehen Sie heute Zeichen eines derartigen Zerfalls?

Sighard Neckel: Wenn wir von einem Zerfall von Ordnungen sprechen, dann ist damit mehr gemeint als der Begriff "Krise". Wir haben in den letzten Jahren häufig über Krisen gesprochen: die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise. Der Zerfall von Ordnung geht tiefer. Davon würde ich sprechen, wenn tragende Säulen unserer Institutionen, unserer Lebensform ins Wanken geraten, elementare Prinzipien, von denen wir bisher trotz aller Krisen angenommen haben, dass sie eine bestimmte Stabilität hätten. So steckt etwa die liberale Demokratie heute in einer tiefgehenden Krise. Die rechtsstaatliche Demokratie, in der sich demokratische Institutionen mit einem kulturellen Pluralismus und einem freiheitlichen Individualismus verbinden, gilt nicht mehr als politisches Ideal und entwickelt außerhalb Europas auch keine besondere Strahlkraft mehr.

Was sind die Folgen dieser Vertrauenskrise?

Die Krise der liberalen Demokratie führt dazu, dass eine Mischung von Autokratie und Demokratie - etwas, das man "Demokratur" nennen könnte - eine immer größere Anhängerschaft findet. Auch in einigen europäischen Ländern scheint den Machteliten das Modell einer "gelenkten Demokratie" - einer Mischung aus Autoritarismus und demokratischen Prozeduren - attraktiv. In so einer Herrschaftsform hat die politische Opposition so gut wie keine Chance.

Haben diese Möchtegern- oder tatsächlich Autokraten die Demokratie gekidnappt oder ist Demokratie einfach eingeknickt?

Fast scheint es, als gäbe es ein "Regime-Handbuch für illiberale Demokratien": Eines der Kapitel dieses Handbuches würde die Empfehlung enthalten, wie man als Machthaber dafür sorgt, dass einem die politische Macht, die man auf demokratischem Weg errungen hat, mit demokratischen Mitteln nicht mehr entrissen werden kann. Indem etwa die Grenzen der Stimmbezirke zum eigenen Vorteil verändert werden - wie in den USA -, indem man versucht - wie in Ungarn -, die Presse gleichzuschalten, oder - wie in Polen - die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben. Im Falle von Viktor Orbáns Ungarn ist es mittlerweile so, dass die Opposition mehr als 60 Prozent der Stimmen auf sich vereinen müsste, damit Orbáns Partei Fidesz die Parlamentsmehrheit verliert. Ein anderes Beispiel ist Donald Trump. Es sieht nicht so aus, als sei seine Regierung gewillt, sich demokratischen Kontrollen zu unterwerfen. Vielmehr versteht sich Trump als Kopf einer Bewegung, deren Ziel die Abkehr von der liberalen Demokratie ist.

Gibt es auch historische Tiefenströmungen, die Sie am Werk sehen?

Ich denke, es spielt eine Rolle, dass die USA aus eigener Schwäche heraus die weltpolitische Führungsposition aufgegeben haben. Andere Mächte versuchen nun, diese Position zu besetzen. Das betrifft in erster Linie China, aber auch Russland versucht sich wieder mehr Einfluss zu verschaffen. Solche Zeiten eines geopolitischen Machtwechsels sind in sich gefährlich.

Sie sehen die Demokratie also ernsthaft gefährdet?

Wir sind in den westlichen Demokratien in einem Ausmaß mit demokratiefeindlichen politischen Parteien und Bewegungen konfrontiert - bis in Regierungsämter hinein -, wie wir dies in den letzten Jahrzehnten nicht kannten. So ist die Sorge nicht unberechtigt, ob das, was wir heute als demokratische Gesellschaft kennen, in zehn Jahren noch Bestand haben wird. Immer mehr gerät in Vergessenheit, auf welchem Gründungsakt die moderne Demokratie etwa in Ländern wie Deutschland oder Österreich beruht. Die Demokratie ist hier als Folge der Niederschlagung des Nationalsozialismus entstanden. Und das muss man sich vor Augen führen, wenn jetzt mit demokratischen Mitteln politische Kräfte an die Macht kommen, die diesen Abstand zum Nationalsozialismus und verwandten Ideologien nicht haben. Das berührt die Grundlagen dessen, worauf unsere Demokratien elementar gründen.

Ist diese Entwicklung in Richtung illiberaler Demokratie irreversibel?

Nein. Der Wert der Demokratie muss für den Einzelnen wieder als nutzbringend erfahrbar werden. Für nicht wenige Bevölkerungsgruppen scheint eine demokratische Gesellschaft keine Vorbedingung mehr für den eigenen Wohlstand und die soziale Sicherheit zu sein. Insbesondere für Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter scheint die Demokratie keine anständige Existenz mehr zu sichern. Die Oberschichten wiederum glauben viel zu oft, auf die Leistungen einer sozialen Demokratie verzichten zu können: Man kann sich ja alles, was man für ein gutes Leben braucht, selber leisten und ist auf gesellschaftliche Einrichtungen nicht angewiesen.

Woher kommt dann die Popularität rechtspopulistischer oder rechtsextremer Parteien?

Die Attraktivität dieser Parteien liegt darin begründet, dass sie in komplizierten und krisenhaften Zeiten eindeutige Identitätsangebote machen. Und darin liegt die Gefahr für den Zusammenhalt unserer Gesellschaften - denn diese Identitätsangebote fußen im Wesentlichen auf Abgrenzung nach außen und der Ablehnung des Fremden. Wenn ich etwa sage: "Ich bin Deutscher", dann enthält dieser Satz heute keine eindeutige Aussage darüber mehr, welcher Herkunft ich bin und ob ich hier im Land geboren wurde. Das war vor einigen Jahrzehnten anders. Denn wir reden eben von einer anderen deutschen Identität, wenn unsere gefeierten Fußball-Nationalspieler Jérôme Boateng oder Mesut Özil heißen. Rechtspopulistische Parteien wollen dahinter wieder zurück.

Haben Sie als Soziologe Verständnis für die Wähler der AfD?

Verständnis nicht, aber ich kann einige der Frustrationen der Menschen, die die AfD wählen, nachvollziehen. Formen der konventionellen Lebensführung, die an bestimmte Orte gebunden sind und keine guten beruflichen Qualifikationen aufweisen, sind in eine tiefe Krise geraten. Und das ist das hauptsächliche Wähler-Reservoir der AfD, aber auch das von Marine Le Pen oder Trump.

Kristallisieren sich nicht viele soziale Diskurse in der Migrationsdebatte?

Fremde repräsentieren für viele Menschen zunächst einmal eine Bedrohung des Gewohnten. Hinzu kommt, dass viele Flüchtlinge, die zuletzt nach Deutschland und auch Österreich gekommen sind, aus dem arabischen Raum stammen, der sich seit Jahrzehnten in einem tragischen Selbstzerstörungsprozess befindet. Hieraus entstehen Probleme, vor denen man nicht die Augen verschließen darf. Wenn die demokratischen Parteien diese Probleme nicht lösen, dann tun das die rechtspopulistischen und rechtsextremen Kräfte auf ihre Weise.

Zur Person

Sighard Neckel (geboren 1956 in Gifhorn) ist ein deutscher Soziologe. Seit Februar 2016 ist er Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialer Wandel an der Universität Hamburg, davor war er unter anderem an der Universität Wien tätig, wo er von 2008 bis 2011 Institutsvorstand am Institut für Soziologie war. Neckel war auf Einladung des Bruno Kreisky Forums für internationalen Dialog in Wien.