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"Die Armen lassen sich nicht brechen"

Von Klaus Huhold

Politik

Colin Gonsalves ist Träger des Alternativen Nobelpreises und kämpft vor Gericht für die Verfolgten.


Colin Gonsalves ist täglich mit den Schattenseiten Indiens konfrontiert. Vertriebene Bauern, von ihren Männern geschlagene Frauen, Opfer religiöser Gewalt - sie alle kommen in das Büro des 65-Jährigen und erhoffen sich Hilfe. Denn der Träger des Alternativen Nobelpreises ist der Gründer des Juristen-Netzwerkes "Recht auf Menschenrechte", das für die verwundbarsten Menschen in der indischen Gesellschaft kämpft. Gonsalves war auf Einladung der "Dreikönigsaktion" in Wien und sprach mit der "Wiener Zeitung" über seine Gerichtsfälle und sein Weltbild.

"Wiener Zeitung": Sie vertreten gerade Flüchtlinge vor Gericht, die der in Myanmar verfolgten Minderheit der Rohingya angehören. Rund 40.000 von ihnen sind nach Indien geflohen. Wie sind ihre Lebensumstände?

Colin Gonsalves: Die Rohingya müssen schlimmer als Tiere leben. In den Camps gibt es keine Toiletten. Es ist auch kein Trinkwasser vorhanden, also müssen sie das Wasser aus den umliegenden Flüssen und Bächen trinken. Deshalb haben Kinder schweren Durchfall bekommen, und manche von ihnen sind gar gestorben. Die Rohingya haben keinen Zugang zu den Krankenhäusern und auch nicht zu den Schulen. Sie erhalten auch nicht, wie viele andere Arme in Indien, subventionierte Lebensmittel. Die Behörden begründen das damit, dass sie keine indischen Staatsbürger sind. Aber das ist nicht korrekt: Denn das in der indischen Verfassung festgeschriebene "Recht auf Leben" bezieht sich auf jeden Menschen, der sich auf dem Territorium des indischen Staates befindet. Das bedeutet, dass die Rohingya ein Recht auf Gesundheitsversorgung, Schulbildung, Wohnraum und Nahrung haben. Unsere Organisation hat nun gemeinsam mit anderen Gruppen eine Dokumentation über die Lebensumstände in manchen Flüchtlingslagern abgeschlossen. Wir haben jetzt eine Klage beim Obersten Gerichtshof eingebracht und fordern, dass den Rohingya diese Rechte gegeben werden.

Aber wenn es zu einem Urteil im Sinne der Rohingya kommt, wird es dann auch umgesetzt?

Wenn es die Behörden nicht umsetzen, missachten sie ein Urteil des Obersten Gerichtshofs und riskieren entsprechende Verfahren. Außerdem werden Teams in den Camps nachprüfen, ob dem Urteil Folge geleistet wird.

Sie vertreten auch Minderheiten, die seit Jahrhunderten in Indien leben. Womit sind diese konfrontiert?

Sie bekommen die Angriffe der Globalisierung zu spüren. Ihre Wälder werden abgeholzt, ihre Flüsse verschmutzt. Indische und multinationale Firmen, etwa aus der Bergbaubranche, rauben ihnen ihr Land. Das läuft oft so ab, dass staatliche Sicherheitskräfte oder auch die Privatarmeen der Firmen ihnen eine Pistole an ihre Schläfe halten und sie auffordern, von ihrem Land zu verschwinden.

Sind die Gerichte die beste Gegenwehr für die Opfer solcher Gewalt? Bringt den Unterprivilegierten der Gang vor Gericht mehr als der auf die Straße?

Nein. Demonstrationen, soziale Bewegungen und die Auflehnung auf der Straße sind das beste Mittel, denn die Macht der Bevölkerung ist die beste Gegenwehr gegen Unterdrückung. Aber es gibt Zeiten, in denen solche Kämpfe unmöglich sind, weil die Unterdrückung zu stark ist. Und in Indien ist das der Fall. Das verstehen die Menschen in Europa kaum: Wie das im Land von Mahatma Gandhi, im Land des gewaltlosen Widerstands möglich sein kann.

Aber ist das so? Indien ist doch eine Demokratie.

Lassen Sie mich das so sagen: Indien ist ein Land, in dem man die Fallen der Demokratie sieht.

Wie meinen Sie das?

Es scheint, als hätten wir eine freie Presse. Dabei gehören die Zeitungen und Fernsehsender großen indischen Konzernen. Wir haben ein Parlament, das offenbar funktioniert, und Wahlen. Aber wenn man genau darauf blickt, stellt sich die Lage anders dar. Dann zeigen sich Unterdrückung, Tötungen durch Sicherheitskräfte, Morde, begangen von Bürgerwehren, die mit der Regierung (des hindu-nationalistischen Premiers Narendra Modi, Anm.) in Verbindung stehen. Nicht nur im Westen, auch viele Inder blicken lieber auf das Trugbild der Demokratie anstatt auf die wahren Zustände in ihrem Land. Denn das löst kein schönes Gefühl aus, sondern macht sie verantwortlich, für die Tötungen, für die Folter und für den Raub von grundlegenden Rechten.

Können Sie ein konkretes Beispiel für diese Vorwürfe nennen?

Ja. In Manipur, einem kleinen Bundesstaat in Indiens Nordosten, wurden innerhalb von 20 Jahren 1500 Bürger Opfer außergerichtlicher Tötungen durch Sicherheitskräfte. Diese Fälle sind dokumentiert. Solche Geschehnisse sind doch unglaublich für eine Demokratie.

Wer waren die Opfer?

Menschen, die in Polizeigewahrsam waren. Was ihnen genau vorgeworfen wurde, ist in diesem Zusammenhang nicht wichtig. Entscheidend ist: Die Polizei geht davon aus, dass sie Richter und Exekutor in einem sein darf, dass sie verhaftete Menschen foltern und töten kann. Die Opfer wurden oft im Wald vergraben, und nachher haben die Sicherheitsbehörden behauptet, dass sie bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei getötet wurden. Es ist gerichtlich bewiesen, dass sowohl Sicherheitskräfte des Bundesstaates als auch der Zentralregierung darin involviert waren.

Mussten die Polizisten keine Bestrafung fürchten?

Es herrschte lange Zeit eine Kultur der Straflosigkeit vor. Und hier mache ich der Justiz, die uns bei anderen Fällen so sehr geholfen hat, einen Vorwurf. Fälle von Folter und Mord durch die Polizei hat sie immer wieder ignoriert.

Und woher kam diese Haltung?

Das hängt mit einer neuen Generation von Richtern zusammen. Die erste Generation von Richtern hatte noch den Aufstand gegen die britischen Kolonialherren miterlebt und -getragen. Diese Richter wussten, was es bedeutet, wenn gewöhnliche Bürger für ihre Rechte kämpfen. Die neuen Richter entstammen einer globalisierten Generation, die im Wohlstand aufgewachsen ist. Sie haben oft keinen Respekt vor armen Leuten, verachten die gewöhnlichen Bürger.

Liegen die Wurzeln dafür auch im Kastensystem?

Ja, das ist dabei ein entscheidender Aspekt. Die untersten Kasten, die Dalits, die als unberührbar gelten, werden nicht als gleichwertige Menschen angesehen. Ist ein Dalit im Raum, darf er nicht am Tisch Platz nehmen, sondern muss sich am Boden ins Eck setzen. Die Diskriminierung der Dalits schlägt sich auch im Gerichtswesen nieder: je höher der Posten, desto niedriger der Anteil der unteren Kasten. Wir dachten, die Globalisierung würde diese Hierarchien schwächen, doch sie hat sie nur verstärkt. Denn die kapitalistische Globalisierung sorgt für tiefe Gräben in der Gesellschaft, verstärkt die Trennung zwischen einzelnen Bürgern.

Können sich dann die Bürger überhaupt auf den Obersten Gerichtshof verlassen?

In vielen Fällen hat der Oberste Gerichtshof extrem gute Arbeit geleistet, etwa im Bereich der Frauenrechte. Es gab etwa erst kürzlich Aufruhr um die Sterilisation von Frauen, die im Zuge eines Regierungsprogramms zur Geburtenkontrolle durchgeführt wurden. Dabei wurden 100 Frauen in ein nicht mehr genutztes Schulgebäude gebracht. Die Tische dort waren schmutzig; mit einem einzigen Laparoskop, das nicht desinfiziert wurde, wurden 100 Frauen operiert, zudem hat der Arzt die Handschuhe nicht gewechselt. Wir brachten diesen Vorfall vor Gericht, und bald stellte sich heraus, dass es sich dabei um keinen Einzelfall handelte, sondern sich überall im Land Ähnliches zugetragen hatte. Der Oberste Gerichtshof hat daraufhin entschieden, dass solche Operationen nur in dafür vorgesehenen Gesundheitseinrichtungen stattfinden, nur von dafür ausgebildeten Ärzten durchgeführt werden dürfen und entsprechende Hygienemaßnahmen eingehalten werden müssen. Damit steht nun das ganze Programm im Fokus der Öffentlichkeit, muss viel humaner durchgeführt werden und es wird nun auch viel mehr darauf geachtet, dass die Frauen tatsächlich einverstanden mit diesen Operationen sind. Auch bei den Säureattacken, die immer wieder Männer auf Frauen verüben, hat das Gericht reagiert: Solche Verbrechen können nun als versuchter Mord eingestuft werden, zudem wurde den Frauen das Recht auf finanzielle Entschädigung und die notwendigen Operationen zugestanden. In anderen Fällen hat uns das Gericht enttäuscht.

Welche Fälle waren das?

Bei den gigantischen Dammbauten, die Millionen Menschen vertrieben haben, hat das Gericht jegliche Klage abgewiesen.

Bei solchen Projekten sind ja auch immer wieder große Konzerne beteiligt. Wie gestaltet sich deren Zusammenspiel mit dem Staat, und wie beurteilen Sie deren Rolle in Bezug auf Menschenrechte?

Früher gab es noch die sozialdemokratische Idee, dass, auch wenn dieses Band schwach war, es ein Bündnis zwischen Staat, Firmen und Bürgern gibt. Dass die Bürger mit nach oben gezogen werden, indem sie etwa eine bessere Schulbildung oder bessere Wohnungen erhalten. Doch die Sozialdemokratie ist tot und wurde von der Globalisierung abgelöst. Der Staat fühlt sich nicht mehr für die Bildung, Lebensmittel oder das Gesundheitswesen verantwortlich. Stattdessen unterstützt er die Konzerne, zählt darauf, dass diese Jobs schaffen, und vertraut auf die Selbstregulierung des Marktes. Damit wurden aber der Staat und die Konzerne zu einem machtvollen Gegner der Bevölkerung. Länder wie Österreich haben eine starke soziale Struktur. Aber in Entwicklungsländern sieht man, wie grausam die Globalisierung sein, wie viel sie den Menschen wegnehmen kann.

Aber hat nicht gerade die Globalisierung Indien auch viel Wohlstand gebracht? Schließlich hat Indien ein enorm hohes Wirtschaftswachstum von um die sieben Prozent vorzuweisen, und viele Bürger sind in die Mittelschicht aufgestiegen.

Hier kommt es auf die Sichtweise an: Wenn ein Konzern Wälder abholzt, wenn Fabriken die Luft verschmutzen und dadurch Gewinne machen, trägt das zum Wirtschaftswachstum bei. Wenn eine Gesellschaft ihre Budgetmittel für die Armen kürzt, weniger Geld für Bildung, Nahrung und Wohnraum zur Verfügung stellt, Bürgern ihr Land, ihre Wälder und Wasserressourcen nimmt, dann kann sie durchaus ein gutes Wirtschaftswachstum haben. Eine Nation, die sich auf dem Rücken der Rechte und des Besitzes der Armen bereichert, kann wohlhabend sein. Indien ist eine wohlhabende Nation für 300 Millionen Einwohner. Aber 800 Millionen Bürger leben von weniger als zwei Dollar am Tag.

Wie gehen die Verlierer dieser Situation mit ihrer Lage um?

Von außen könnte man den Eindruck bekommen, dass sie aufgeben. Aber die Armen und die Arbeiter - und ich denke, das gilt für alle Entwicklungsländer - lassen sich nicht brechen. Auch dann nicht, wenn man ihnen Pistolen an die Schläfen setzt, sie aushungert oder ihren Kindern Schulbildung verwehrt. Die Mittelklasse ist fragiler, ihre Angehörigen verfallen eher in Selbstzweifel. Und die Mittelklasse unterschätzt die Widerstandsfähigkeit der unteren Klassen. Allerdings suchen die Armen jemanden, der ihren Kampf anführt. Doch das ist ein großer Fehler: Die Zeiten, in denen eine politische Partei oder eine große politische Figur für sie ins Feld zieht, sind vorbei. Sie müssen aus sich selbst, aus ihrer eigenen Spiritualität heraus ihre Stärke gewinnen und selbst ihre Revolution anführen. Das wird in den Entwicklungsländern auch passieren und die kapitalistische Welt ordentlich überraschen.

Sie glauben tatsächlich an eine Revolution?

Ich bin mir sicher, dass sie kommen wird. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass es im Individuum eine bestimmte Spiritualität gibt, die gerade in den dunkelsten und hoffnungslosesten Zeiten aufblüht. Meine Arbeit bringt mich ständig mit den Ärmsten, mit den Arbeitern zusammen, und diese sind viel entschlossener, als die Gesellschaft glaubt. Und wenn sie einmal bereit sind, für eine Sache, an die sie glauben, zu sterben, dann kann sie nichts mehr aufhalten - keine Entrechtung und keine Gewehrkugel. Und in Indien sind derartige Entwicklungen schon zu sehen. Die Dalits begehren gegen ihre Unterdrückung auf, mobilisieren in großer Zahl, gehen überall im Land auf die Straße und stellen sich den Gewehrläufen der Sicherheitskräfte entgegen. Das sind Zeichen einer Veränderung.

Colin Gonsalves und sein juristisches Netzwerk

"Indien ist voll von Menschen, die diskriminiert werden", sagt Colin Gonsalves. Da wären etwa die Dalits, die unteren Kasten. "Dalit zu sein ist ein Stigma", sagt Gonsalves. Die Dalits gelten als unberührbar, werden oft von der restlichen Bevölkerung verachtet und gemieden. Auch Minderheiten und indigenen Gruppen werden oft ihre Rechte vorenthalten. "Zudem leben hunderte Millionen Menschen unter der Armutsgrenze", betont Gonsalves.

Aus diesen Bevölkerungsgruppen kommen die Mandanten von Gonsalves. Vor fast 20 Jahren gründete er das Netzwerk "Recht auf Menschenrechte". Die Anwälte nutzen dabei immer wieder eine Besonderheit im indischen Rechtssystem: Musterklagen im öffentlichen Interesse. Und haben dabei vor dem Obersten Gerichtshof immer wieder Erfolge erzielt.

Ein Meilenstein war dabei das von Gonsalves im Jahr 2001 erfochtene Urteil, dass das Recht auf Nahrung als Voraussetzung für das von der indischen Verfassung geschützte Recht auf Leben angesehen wird. Rund 400 Millionen Inder, die subventionierte Lebensmittel erhalten, profitieren von dem Urteil.

Auch andere Prozesse, die Gonsalves und seine Mitstreiter geführt haben, haben Spuren in Indien hinterlassen: Sie haben erreicht, dass enteignete Bauern ihr Land zurückerhalten. Ihrer Arbeit ist es zu verdanken, dass die Ermordungen von Angehörigen religiöser Minderheiten, die von der Polizei bereits zu den Akten gelegt wurden, neu untersucht werden. Gonsalves ist dabei auch ein scharfer Kritiker der derzeitigen hindu-nationalistischen Regierung von Premier Narendra Modi, den er für eine zunehmende religiöse Intoleranz im Land verantwortlich macht.

Für seinen "unermüdlichen und innovativen Einsatz vor Gericht, um die grundlegenden Menschenrechte für Indiens marginalisierte Bürger zu schützen", erhielt Gonsalves 2017 den "Right Livelihood Arward", der besser bekannt ist als "Alternativer Nobelpreis".