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Erdogans Trumpf sticht nicht mehr

Von WZ-Korrespondent Gerd Höhler

Politik

Der türkischen Konjunktur droht nach dem Boom der vergangenen Jahre eine harte Landung. Inflation und Arbeitslosigkeit steigen, die Lira verfällt. Damit ist die Wirtschaft zum wichtigsten Thema der Wahl am Sonntag geworden.


Istanbul. Seit Recep Tayyip Erdogans islamisch-konservative AKP 2002 ihren ersten Wahlsieg errungen hat, kannten die ökonomischen Indikatoren in der Türkei meist nur eine Richtung: aufwärts. In Erdogans ersten zehn Regierungsjahren verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen, die Türkei stieg in die Liga der G20 auf, der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Selbst die globale Finanzkrise von 2009 bescherte der türkischen Wachstumskurve nur eine kurze Delle.

Das türkische Wirtschaftswunder hatte dabei vor allem ein Gesicht: Erdogan eröffnete neue Straßen und Brücken, verkündete den Neubau von Spitälern, U-Bahnen und Flughäfen. Doch nach Jahren des Booms sticht die Trumpfkarte des 2014 zum Präsidenten aufgerückten AKP-Chefs nicht mehr. Die Türken, die am Sonntag ein neues Parlament und den künftigen Präsidenten wählen, leiden an der Inflation von mehr als zwölf Prozent, die immer stärker an ihrer Kaufkraft zehrt. Und auch am Arbeitsmarkt sieht die Lage bei weitem nicht so rosig aus, wie es die Konjunkturentwicklung eigentlich verheißen müsste. So liegt die Quote der Menschen, die derzeit einen Job suchen offiziell bei zehn Prozent, vor allem die Jungen unter 25 tun sich aber schwer einen Arbeitsplatz zu finden.

Kritisch sehen viele Experten zudem, dass die türkische Wirtschaft, die im ersten Quartal um 7,4 Prozent zugelegt hatte, derzeit mit einem dermaßen hohen Tempo wächst. Denn vieles deutet daraufhin, dass diese Rekordwerte bereits die Vorboten einer Überhitzung sind, die zu einem jähen Absturz in die Rezession führen könnte. So basiert der Boom vor allem auf staatlichen Infrastrukturprogrammen, Subventionen und Kreditbürgschaften. Ein besonders alarmierendes Ergebnis der künstlich angefeuerten Konjunktur ist das anschwellende Leistungsbilanzdefizit. Um es auszugleichen, braucht die Türkei Investitions- und Risikokapitalzuflüsse aus dem Ausland. Doch stattdessen ziehen viele Anleger Gelder aus der Türkei ab - wegen steigender Zinsen im Dollarraum, aber auch angesichts der wachsenden politischen Risiken am Bosporus. Im Mai stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit der Türkei daher noch tiefer in den Ramschbereich herab. Dass Erdogan die Wirtschaft seit Jahren mit Subventionen am Laufen hält, statt mit Strukturreformen das Fundament für ein nachhaltiges Wachstum zu legen, scheint sich also bereits zu rächen.

Größte Schwächen der türkischen Wirtschaft sind nach Ansicht von unabhängigen Experten die mangelnde Innovationskraft, die schlechte Produktivität, die geringe Wertschöpfung und die hohe Abhängigkeit von Importen. Der für die Wirtschaftspolitik zuständige Vizepremier Mehmet Simsek, ein früherer Investmentbanker, verspricht jetzt für die Zeit nach den Wahlen "tiefgreifende Transformationen in bestimmten Wirtschaftssektoren". So will Simsek das hohe Leistungsbilanzdefizit bekämpfen. Warum er diese Reformen nicht längst umsetzte, sagte der Vizepremier, der seit immerhin elf Jahren in Erdogan-Regierungen sitzt, allerdings nicht.

Ince warnt vor Absturz

Dass das Thema auch die Wähler umtreibt, zeigen die Umfragen: 34,2 Prozent der Türken sehen in der Wirtschaftsentwicklung das größte Problem des Landes. Den Terrorismus, der bei Parlamentswahlen 2015 und dem Verfassungsreferendum 2017 stark im Fokus stand, nennen nur noch knapp 18 Prozent als ihre Hauptsorge.

Fast 36 Prozent der Befragten erklären zudem, ihre eigene wirtschaftliche Situation habe sich in den vergangenen zwölf Monaten verschlechtert. Erdogans Konkurrent Muharrem Ince, der als Präsidentschaftskandidat der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP den Amtsinhaber am Sonntag in eine Stichwahl zwingen könnte, versucht, von dieser Stimmung zu profitieren.

"Eine Wirtschaftskrise steht vor der Tür", sagt Ince, deshalb habe Erdogan die Wahlen um 17 Monate vorgezogen. "Die Türkei geht schwarzen Tagen entgegen", warnt er. "Wundert Euch nicht, wenn der Dollar bald acht oder zehn Lira kostet." Ein wunder Punkt. Die Lira hat seit Beginn des Jahres rund ein Fünftel ihres Außenwerts verloren. Der Währungsverfall feuert die Inflation an und bringt viele Firmen in Schwierigkeiten, die Kredite in Fremdwährungen aufgenommen haben, aber ihre Erlöse in Lira erwirtschaften. Sie müssen jetzt immer mehr für den Schuldendienst aufbringen. Mehrere Großkonzerne verhandeln bereits über Umschuldungen. Das könnte zu einer Bankenkrise führen.

Erdogan macht für den Lira-Absturz hingegen eine "Verschwörung fremder Mächte" verantwortlich. Ende April forderte er seine Landsleute auf, gehortete Dollar in Lira umzutauschen, um die Währung zu stützen - ein verzweifelter Appell. Wer ihn befolgte und 1000 Dollar wechselte, bekam damals 4044 Lira. Um die 1000 Dollar zurückzukaufen, müsste er heute bereits 4732 Lira zur Wechselstube bringen - ein schlechtes Geschäft.

Derweil verlässt sich Erdogan darauf, dass sein Wirtschaftswunder weiter wirkt. Vor seinem Amtsantritt 2002 seien in der Türkei knapp 1,1 Millionen Kühlschränke verkauft worden, rechnete der Staatschef kürzlich bei einer Wahlkundgebung vor, im vergangenen Jahr hingegen über 3,1 Millionen. Erdogans gewagte Schlussfolgerung: "Es gibt in der Türkei keine Armut mehr."