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"Es weht ein Wind of Change"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Bei der Opposition gibt es erstmals seit langer Zeit die Hoffnung, Präsident Erdogan gefährlich werden zu können.


"Wiener Zeitung": In den vergangenen Jahren schien Präsident Erdogan trotz einiger knapper Wahlergebnisse so gut wie unantastbar. Nun wirkt er ideenlos und müde, und die Wahlen am Sonntag dürften alles andere als ein Durchmarsch für ihn werden. Wie lässt sich das erklären?

Cengiz Günay: Einerseits ist Erdogan schon seit 16 Jahren an der Macht, das ist wirklich eine lange Zeit. Seit 2014 war in der Türkei zudem fast dauernd Wahlkampf, und Erdogan ist permanent durch das ganze Land gereist. Und selbst wenn gerade einmal kein Wahlkampf war, hat er Wahlkampfstimmung verbreitet, weil es Teil der Mobilisierungsmaschinerie ist, mit der die Schäfchen im eigenen Lager gehalten werden sollen. In den vergangenen Jahren ist die Türkei auch nicht gerade durch eine einfache Zeit gegangen. Da war der Putschversuch 2016, und es gab außenpolitisch große Herausforderungen. Und jetzt kommt eben noch dazu, dass dieses Wirtschaftssystem, das Erdogan in den vergangenen Jahren geschaffen hat, in dieser Form immer schwieriger zu erhalten ist. Das Außenhandelsdefizit wird immer größer, viele Großkonzerne sind tief verschuldet, und es gibt immer weniger umzuverteilen. All das spielt sicher eine Rolle, dass Erdogan Ermüdungserscheinungen zeigt.

Welche Rolle hat die Wirtschaft im Wahlkampf gespielt? Die Lira hat ja massiv an Wert verloren, und auch die hohe Inflation zehrt an der Kaufkraft der Türken.

Das spielt meiner Meinung nach eine sehr große Rolle. Nach dem Verfassungsreferendum 2017 ist ja schon der Tourismus-Sektor in der Krise gesteckt, und nun hat der Wertverfall der Lira die Schulden für viele private Haushalte, die Kredite in Fremdwährungen aufgenommen haben, noch unbezahlbarer gemacht. Gleichzeitig werden die Lebenshaltungskosten immer teurer. Viele ächzen und jammern und sagen, es geht sich nur ganz knapp aus. Den Zenit haben Erdogan und seine Partei allerdings schon vor einiger Zeit überschritten, und mittlerweile lässt sich ein schrittweises Abbröckeln beobachten. Das erste Zeichen dafür war die Wahl 2015, als die AKP die absolute Mehrheit im Parlament verloren hat. Das nächste Alarmsignal gab es dann, als das Verfassungsreferendum vor einem Jahr nur sehr knapp ausgegangen ist. Vor allem in den Großstädten, die ja immer die Hochburgen der AKP waren, haben viele dagegen gestimmt, weil die aufstrebende Mittelschicht nicht mehr so profitiert wie früher. Und das System kann auch die Idee eines Aufstiegs nicht mehr so vermitteln wie einst. Die Erwartungen, dass es in Zukunft besser wird, werden immer geringer. Das sieht man auch in den Umfragen sehr klar. Wodurch Erdogan noch am ehesten mobilisieren kann, ist, dass man weiß, was man bekommt, wenn man ihn wählt. So gibt es bei vielen die Hoffnung, dass es bei einem Sieg Erdogans immerhin politische Stabilität gibt. Denn die Angst, dass unklare Verhältnisse die wirtschaftliche Krise noch weiter vorantreiben, ist eindeutig vorhanden.

Erdogan war vor allem im anatolischen Kernland stark, wo ihm der wirtschaftliche Aufschwung hoch angerechnet wurde. Bröckelt die Unterstützung auch dort?

In der anatolischen Provinz ist sie noch immer am stärksten, vor allem, weil dort der Zugang zu alternativen Informationsquellen äußerst gering ist. Die Mainstream-Medien sind mit wenigen Ausnahmen von Leuten dominiert, die der AKP und Erdogan nahestehen. Sie finden dort kaum kritische Berichterstattung, stattdessen werden dort die Verschwörungsdiskurse wiederholt, wonach ausländische Kräfte den Aufstieg der Türkei verhindern wollen. Hinzu kommt, dass der Anstieg der Lebenshaltungskosten in den Großstädten viel stärker zu spüren ist als in der Provinz.

Wie stark wird denn Muharrem Ince, der Spitzenkandidat der CHP, von der augenblicklichen Lage profitieren können?

Ince ist unerwartet in kürzester Zeit zu einem Star der Opposition geworden. Vor allem ist das CHP-Lager, in dem es ja sehr viele unterschiedliche Flügel gibt, zum ersten Mal seit langem geeint. Und Ince bietet Erdogan nicht nur Paroli, sondern treibt ihn auch argumentativ vor sich her. Ince hat da wirklich die Wortführerschaft, und er hat Witz und Humor. Dazu kommt, dass Ince von der AKP als einziger Gegenkandidat aufgebaut wird. Das Spiel, hier die Vertreter der unterdrückten Provinzgesellschaft, dort die alten Kemalisten, lässt sich mit Ince gut spielen. Die beiden anderen Kandidaten Selahattin Demirtas und Meral Aksener, die für Erdogan gefährlich sind, weil sie im selben Wählerreservoir fischen, kommen dagegen kaum vor. Die Frage ist aber vor allem, wie weit Ince über die CHP-Stammklientel hinaus mobilisieren kann.

Wie sind Inces Chancen, wenn es zu einer Stichwahl kommt? Werden sich alle anderen Kräfte da gegen Erdogan verbünden?

Gesagt haben sie es. Obwohl die Opposition sehr unterschiedlich aufgestellt ist, ziehen damit zum ersten Mal alle an einem Strang. Und es weht ein wirklicher "Wind of Change", seit langem ist jetzt wieder die Hoffnung da, Erdogan schlagen zu können. In jedem Fall wäre es schon ein Riesenerfolg, wenn sich ein zweiter Wahlgang ausginge, das wäre eine Ohrfeige in das Gesicht von Erdogan.

Die Opposition geht davon aus, dass es auch diesmal zu Manipulationen kommen wird. Von welchem Umfang reden wir hier?

Das ist wirklich schwer vorauszusagen, ob es so etwas geben wird. Aber allein schon der Verdacht zeigt, wie gering das Vertrauen in die Regierung ist, die inzwischen ja schon alle Posten im Staat durch nahestehende Personen besetzt hat. Koordinierte Manipulationen im großen Stil sind aber selbst in der Türkei nur schwer möglich.

Ist es vorstellbar, dass sich Erdogan bei einem schlechten Wahlergebnis zurückzieht?

Das glaube ich nicht. Erdogan gibt nicht auf, das ist nicht seine Persönlichkeit. Und ich würde mich nicht wundern, wenn er in so einem Fall nicht noch irgendwelche Ideen im Talon hätte. Auch das ganze System würde es nicht verkraften, wenn es nicht mehr an der Macht ist. Die Partei gibt es ja in dieser Form nicht mehr, die AKP ist zu einer ganz auf Erdogan ausgerichteten Wahlmaschinerie geworden.