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Ein totes Baby und gefälschte Statistiken

Von Konstanze Walther

Politik

Die blutigen Proteste mit über 200 Toten in Nicaragua fanden am Wochenende einen neuerlichen Höhepunkt.


Managua. Es ist ein kleiner weißer Sarg, nicht mehr als eineinhalb Meter lang. In ihm wurden die Überreste von Teyler Lorío Navarrete am Sonntag beerdigt. Teyler wurde nur 14 Monate alt. Das Baby starb am Samstag in den Armen seines Vaters in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua. "Wir wollten unser Kind zu meiner Schwiegermutter bringen. Als wir um die Ecke bogen, hat die Polizei angefangen, auf uns zu schießen. Mein Mann drehte sich um, und in diesem Moment schossen sie meinem Baby in den Kopf", erzählt Karina Navarrete, die Mutter des getöteten Kindes.

Der weiße Sarg dominiert alle nicaraguanischen Medien zu Wochenbeginn. Das getötete Baby ist der traurige Höhepunkt der blutigen Proteste, die seit April das mittelamerikanische Land dominieren.

Angefangen haben die Proteste am 18. April, als Langzeitpräsident Daniel Ortega das ohnedies schon magere Sozialsystem noch einmal kürzen wollte. Die brutale Niederschlagung dieser ersten Demonstrationen durch den Staat bewirkte das Gegenteil: Immer mehr Menschen gingen auf die Straße, um gegen den Präsidenten Ortega zu demonstrieren, immer blutiger wurde der Versuch, den Widerstand zu unterdrücken.

Vergangene Woche zählte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) mindestens 212 getötete Personen und 1337 Verletzte. Mehr als 500 Personen sind festgenommen worden. Mit diesem Wochenende sind es mindestens acht weitere Ermordete. Doch ob es sich offiziell um Getötete handelt, ist in dem von Korruption und Missständen geprägten Land nicht einmal außer Streit gestellt. Denn wenn es sich um Getötete handelt, muss es schließlich Verantwortliche geben.

In einem Video erklärte die Polizei, dass die "Verbrecher", die "Aufständischen" schuld am Tod des Babys sind, weil sie das Stadtviertel zu kontrollieren versuchen. Das lässt sich die Mutter des Babys nicht gefallen: "Die Polizei hat ihn erschossen. Ich habe es gesehen. Es waren Polizisten", erklärte Karina Navarrete gegenüber nicaraguanischen Medien.

Doch Präsident Ortega klammert sich an die Macht und schenkt den Protesten, die seinen Rücktritt fordern, kein Gehör. Ein getötetes Baby macht sich aber nicht gut in der Statistik, die ihm im Ausland vorgeworfen werden könnte. Und so kam es in dem Fall zu der absurden Meldung, dass das "Nicaraguanische-Deutsche Spital" eine Todesurkunde für das Baby ausgestellt hat, in dem als Todesursache "Verdacht auf Selbstmord" angekreuzt worden ist. Das zeige, wie die medizinischen Akten vom Regime Ortega manipuliert werden, um sich der Verantwortung zu entziehen, schreibt etwa die nicaraguanische Zeitung "La Prensa". Der Generalsekretär der nicaraguanischen Vereinigung für Menschenrechte (ANPDH), Álvaro Leiva Sánchez, nannte die Todesurkunde dementsprechend auch "unglaubwürdig und jenseits aller Logik".

Der in Guerilla-Taktiken geschulte Präsident Daniel Ortega war eine Führungsfigur der linksgerichteten Sandinisten, die für die Entmachtung des Diktators Anastasio Somoza Debayle 1979 verantwortlich war. Ortega war schon 1985 bis 1990 im Amt. Das ist auch das Jahr, in dem der blutige Bürgerkrieg sein offizielles Ende nahm.

Nach Jahren in der unfreiwilligen Opposition - Ortega kandidierte weiterhin für das Präsidentenamt - wurde er 2007 wieder ins höchste Amt gewählt. Dank der länderübergreifenden Kooperation der linken Regierungen Lateinamerikas konnte Nicaragua im Rahmen der Alba (Bolivarianische Allianz für die Völker unseres Amerika) auf nachbarschaftliche Hilfe zählen. Seit 2007 bekam Nicaragua, das ärmste Land Mittelamerikas, etwa hunderte Millionen Dollar aus einer Ölkooperation mit Venezuela. Das meiste Geld floss an eine private Gesellschaft, Albanisa, die von Ortegas Partei kontrolliert wurde. Doch mit dem Abstieg Venezuelas trocknete auch die Geldflüsse nach Nicaragua aus. Das Land sei kurz vor der Pleite, deswegen müssen die Pensionen gekürzt werden, erklärte Ortega etwa diesen April - und löste damit die wütenden Proteste aus.

Ortega schließt Rücktritt aus und will bis 2022 regieren

Ortega, der seine Frau mittlerweile schon zur Vizepräsidentin gemacht hat, hält sich seit elf Jahren ungebrochen an der Macht. 2007 ist er nur mit rund 35 Prozent der Stimmen gewählt worden. 2010 hat der Oberste Gerichtshof die Beschränkung aufgehoben, wonach der Präsident nicht zur Wiederwahl antreten durfte. Im Jahr darauf, 2011, gewann Ortega 72,5 Prozent der Stimmen. Die Opposition sprach von Wahlbetrug, die USA zweifelten das Ergebnis offiziell an. 2014 hat das Parlament, in dem Ortegas Partei seit den Wahlen die Mehrheit genießt, die Beschränkung der Amtsperioden eines Präsidenten überhaupt aufgehoben. Vor den Wahlen 2016 wurde der Kandidat der größten Oppositionspartei vom Obersten Gerichtshof abgesägt und mit einem Kandidaten ersetzt, dem eine starke Verbindung zu Ortega nachgesagt wurde.

Ortegas derzeitiges Mandat läuft bis 2022. Bis jetzt weigert er sich, einen Rücktritt in Betracht zu ziehen, obwohl sogar die Kirche die "überzogene Gewalt" des Staates anprangert.