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Der lange Arm der Gringos

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder

Politik

Mexiko wählt am Sonntag. Das Schicksal des Präsidenten wird durch das Verhältnis zu den USA bestimmt.


Los Angeles/Mexico City. Für Spätaufsteher ist Südkalifornien dieser Tage kein gutes Pflaster. Die Feuerwerke in den hiesigen Metropolen starten - der Zeitdifferenz zu Russland geschuldet - derzeit schon am helllichten Morgen, gepaart mit Urschreien und Aufrufen zu "Hoch die Tassen".

Die US-Fußballmannschaft hat sich zwar für die WM nicht qualifiziert. Aber das ist hier egal: Ob Los Angeles, San Diego, San Bernardino, Riverside: Wenn es bisher noch irgendeinen Zweifel über die demografischen Realitäten der Region gab, hat sie die Fußballweltmeisterschaft endgültig hinweg gewischt. Dementsprechend lautet hier derzeit die einzige Frage, wie lange der Ausnahmezustand anhalten wird.

Die Wetten stehen darauf, dass er am Montagmorgen endet; aber wenn "El Tri", die Nationalmannschaft Mexikos, es tatsächlich schafft, an diesem Tag im Stadion zu Samara die Brasilianer zu biegen, können sich die kalifornischen Feuerwehrmänner und Polizisten auf weitere Überstunden gefasst machen.

Während die spanisch- wie englischsprachigen Lokalzeitungen des Bundesstaats Kalifornien voll mit Berichten über gefühlt jeden einzelnen Zeh der Tricolor sind, scheint dies - wie jenseits der Grenze ein formal ungleich wichtigeres Thema - im WM-Trubel glatt unterzugehen. Denn am Sonntag wählt Mexiko einen neuen Präsidenten. In den Umfragen führt seit Beginn des Wahlkampfs konstant der, den sie von San Diego/Tijuana bis Cancún nur "Amlo" nennen: Andrés Manuel López Obrador, 64, aus der Provinz Tabasco stammender Linkspopulist und Chef der von ihm gegründeten Partei Morena, dessen Hang zum Pragmatismus sich in der Regel erst entfaltet, wenn er in ein Amt gewählt ist. Es ist seine dritte Bewerbung ums höchste Amt im Staat und diesmal könnte es tatsächlich klappen - auch, weil der ehemalige Bürgermeister von Mexiko City in regelmäßigen Abständen unfreiwillige Wahlkampfhilfe vom nördlichen Nachbarn bekommt.

"Sie bringen Drogen, Gewalt, sind Vergewaltiger"

"Wenn Mexiko seine Leute schickt, sind es nicht die besten: Sie schicken Leute, die Probleme haben. Sie bringen Drogen, sie bringen Gewalt, sie sind Vergewaltiger. Manche von ihnen, nehme ich an, sind gute Leute." Mit diesen Worten begann US-Präsident Donald Trump fast auf den Tag genau vor drei Jahren seinen Wahlkampf ums Weiße Haus. Mit der Forderung nach dem Bau einer physischen Mauer zwischen den zwei Staaten beflügelte er die Fantasie jener Teile des weißen Amerikas, die die Schuld für ihre individuelle Unzufriedenheit traditionell gern auf Einwanderer schieben.

Nachdem die klassische republikanische Basis, die weiße Mittel- und Oberschicht, damit ebenfalls kein Problem hatte und Russland virtuelle Schützenhilfe gab, darf Trump seine Botschaft nun nicht mehr bloß aus dem Atrium des Trump Towers, sondern aus dem Oval Office verkünden. Mit entsprechenden Folgen. Seinerzeit als Minderheitenmeinung abgetan, gelten seine Worte von damals heute als Staatsdoktrin.

Manifestieren tut sich nämliche in unterschiedlichsten Formen: Ob in Beleidigungen ausartende Telefongespräche mit dem scheidenden mexikanischen Präsidenten Enrique Peña Nieto, den zunehmend brutaler werdenden Methoden der Einwanderungsbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement) gegen illegale Einwanderer, von denen viele aus Mexiko stammen, oder der Entscheidung, Strafzölle auf mexikanische Waren einzuführen. Angesichts all dessen mutet es auf den ersten Blick erstaunlich an, dass das Verhältnis zwischen Mexiko und den USA immer noch halbwegs intakt ist - und sich bei näherem Hinsehen sogar als besser darstellt, als es den Anschein hat.

Warum das so ist, hat vor allem mit zwei Dingen zu tun: erstens, dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen Nafta. Von den drei Mitgliedsstaaten Kanada, USA und Mexiko hat von dem 1994 in Kraft getretenen Vertrag keines so sehr profitiert wie Letzteres. Die Handelsbilanz zwischen den beiden Ländern - auf die sich Trump immer gern einschießt, wenn es um angeblichen "Betrug" an den USA geht - weist einen Überschuss von rund 70 Milliarden Dollar für Mexikos aus.

Zweitens, und in diesem Punkt wird es für jeden künftigen mexikanischen Präsidenten wirklich heikel, überweisen die zwischen elf und 20 Millionen geschätzten, legal und illegal in den USA lebenden Mexikaner jedes Jahr einen Betrag Richtung Heimat, der mittlerweile gleichauf mit den Umsätzen großer Wirtschaftszweige wie dem Tourismus liegt. Laut dem in Washington D.C. ansässigen Thinktank Inter-American Dialogue gingen gut 40 Prozent der insgesamt 70 Milliarden Dollar umfassenden Geldanweisungen ins Ausland, die Einwanderer in die USA im Jahr 2016 tätigten, nach Mexiko.

López Obrador, oder, falls es wider Erwarten zu einer Überraschung kommt, seine Gegenkandidaten - können ihre allfällige Anti-Amerika-Rhetorik dementsprechend nur in gezielten Dosen verabreichen; zu groß ist die Angst, dass der unberechenbare Mann im Weißen Haus die in republikanischen Zirkeln seit Jahren existierende Idee, diese Auslandsüberweisungen ordentlich zu besteuern, in die Tat umsetzt. Anders gesagt: Man kann es drehen und wenden, wie man will - am Ende sind die USA im Verhältnis der beiden die in jeder Hinsicht stärkere Partei und setzen dem politischen Einfluss von und dem Gestaltungswillen in Mexiko folgerichtig seine Grenzen.

ReibungsloseZusammenarbeit

Im Wahlkampf bemühte sich López Obrador, dieses massive Ungleichgewicht im Machtgefüge so weit es ging zu übertünchen: Er appellierte an den Nationalstolz, gab ein Buch mit dem Titel "Hör zu, Trump" heraus und nahm sogar da und dort rhetorische Anleihen bei dem 71-jährigen Ex-Reality-Star ("Mexikaner zuerst"). Tatsächlich stehen die Chancen, dass sich das Verhältnis nach seiner Wahl ändern wird, nicht gut. In Sachen Sicherheit arbeiten die beiden Staaten, wie sowohl das amerikanische Department of Homeland Security wie das mexikanische Innenministerium gern bestätigen, auch nach der Wahl Trumps reibungslos zusammen. Selbst die Mauer, die nämlicher bauen will, wird in Mexiko eher als Witz gesehen denn als wirksame Abwehrmaßnahme gegen illegale Einwanderung. Wie die amerikanische Regierung wissen die Mexikaner genau, dass die derzeitige "Krisensituation" an der Grenze, die Erstere angeblich dazu zwingt, Kleinkinder von ihren Müttern zu trennen, pure Fiktion ist, die Trump einzig und allein dazu dient, seine ausländerfeindliche Wählerbasis für die Midterms in Stimmung zu bringen.

FreundschaftlicheBeziehungen

Während die illegale mexikanische Einwanderung in die USA im vergangenen Jahrzehnt ihren Höhepunkt erreichte, ist sie laut allem einschlägigen offiziellen wie akademischem Zahlenwerk seitdem nicht nur zurückgegangen, sondern hat sich umgedreht. Jene Immigranten, die heutzutage rechtswidrig die Grenze überschreiten, stammen fast ausnahmslos aus den armen Ländern Zentralamerikas wie Guatemala, El Salvador, Honduras oder Nicaragua.

Auch insofern erwartet bei aller kriegerischen Rhetorik niemand, dass sich nach Sonntag etwas gravierend ändert, bestehen zwischen Washington und Mexico City doch sogar persönliche Beziehungen: Als López Obrador zwischen 2000 und 2005 der mexikanischen Hauptstadt als Bürgermeister vorstand und um Rat bei der Kriminalitätsbekämpfung suchte, lud er niemanden Geringeren als Rudy Giuliani ein.

Der ehemalige Stadtvorsteher von New York, der seit dem Ausscheiden aus diesem Amt mehr durch seine amourösen Ausritte und seinen Hang zum Alkohol Schlagzeilen macht, arbeitet heute als Anwalt und öffentliches Sprachrohr von Donald Trump. López Obrador nennt Giuliani bis heute einen "Freund".