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"Kolumbien ist nicht mehr dasselbe Land"

Von Ralf Leonhard

Politik
© Leonhard

Vera Grabe, kolumbianische Friedensaktivistin und Ex-Guerilla-Kämpferin der M-19, im Interview.


Nach mehr als 50 Jahren des bewaffneten Konfliktes haben sich die linksgerichtete Farc-Guerilla und die kolumbianische Regierung 2016 auf ein Friedensabkommen geeinigt. Dem damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos wurde nach den zähen Verhandlungen, deswegen sogar der Friedensnobelpreis zuerkannt. Santos’ Vorgänger Álvaro Uribe hatte Verhandlungen mit den Rebellen strikt abgelehnt. Uribes politischer Ziehsohn Iván Duque ist im Juni zum nächsten Präsidenten Kolumbiens gewählt worden.

Während die Farc die größte Guerilla des Landes war, ist sie beileibe nicht die einzige. Die ELN ist nach wie vor aktiv; die M-19 hat sich schon 1990 in eine rein politische Kraft umgewandelt. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Vera Grabe, einer kolumbianischen Friedensaktivisten und Ex-Guerilla-Kämpferin der M-19, über die Herausforderungen der Zukunft.

Wiener Zeitung:Zwei Jahre nach dem Friedensabkommen hört man weiter von großen Probleme bei der Integration von Farc-Kämpfern.

Vera Grabe: Dabei wird meist die Tatsache unterbewertet, dass die Farc den Entschluss gefasst hat, sich in eine politische Partei zu verwandeln. Dem Foto vom früheren Farc-Oberkommandierenden bei der Stimmabgabe bei der vergangenen Wahl wurde von den Medien kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei ist das historisch (die Farc hat für einen befristeten Zeitraum garantierte Sitze im Parlament bekommen, Anm.). Allein, dass kaum noch jemand durch den bewaffneten Konflikt stirbt, ist ein Fortschritt, den die Menschen in den Regionen sehen und spüren. Die Reintegration geschieht, aber sie geschieht viel zu langsam. Die meisten ehemaligen Kämpfer haben deswegen die Übergangslager verlassen.

In den Übergangslagern sollten ehemaligen Farc-Kämpfer ja durch ein Stück Land oder eine Berufsausbildung die Grundlage für ein neues Leben in Friedenszeiten bekommen. Findet das statt?

Es gibt Bildungsprogramme, etwa Maturakurse. Wichtig sind die Produktionsprojekte. Die gibt es vor allem dort, wo ehemalige Comandantes, also Anführer, selbst initiativ geworden sind und sich um Landerwerb gekümmert haben. Nicht durch den Staat.

Was sind die auffälligsten Unterschiede zwischen den Friedensprozessen mit der "Bewegung 19. April" (M-19), der Sie als Kommandantin angehörten, und der Farc?

Vor allem das historische Momentum. Wir sind damals sofort von der Bevölkerung gut aufgenommen worden und haben sehr gute Wahlergebnisse erzielt. Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung 1991 wurden wir mit fast einem Drittel der Stimmen die drittstärkste Kraft. Die Farc hat jetzt kaum 50.000 Stimmen bekommen, das ist weniger als 1 Prozent. Bei uns war es ein sehr politischer Prozess, der nicht in einer so polarisierten Stimmung stattgefunden hat wie nun mit der Farc. Der damalige Verfassungsprozess hatte viel bewegt. Der Friede mit der Farc hat nun nicht zur Einigung beigetragen, sondern polarisiert. Wir hatten damals eine Partei gegründet, die sich "Demokratische Allianz M-19" nannte. Da waren nicht nur unsere Leute dabei. Die Farc hat sich nicht einmal umgetauft.

Wie ist das mit der Versöhnung? In Sozialen Medien werden Sie selbst heute noch als "Mörderin" beschimpft. Inwieweit ist diese Zeit aufgearbeitet?

Ich glaube, die Aufarbeitung (der Geschichte der M-19, Anm.) ist weitgehend passiert. Es gab Rückschläge: Als wir 1994 bei den Wahlen verloren, hat man uns abfällig als "Demobilisierte" verunglimpft. So etwas tritt in Zeiten zunehmender Polarisierung wieder ein. Im Großen und Ganzen sind wir aber akzeptiert. Ich bekomme nicht ständig Hassbriefe. Ich stehe allerdings auch nicht in der vordersten Reihe. Jemand wie der Ex-Comandante der M-19, Antonio Navarro Wolff, der lange Jahre Bürgermeister und Abgeordneter war und jetzt als Senator tätig ist, genießt große Anerkennung. Bogotás Ex-Bürgermeister Gustavo Petro war auch bei der M-19. Petro, der sehr radikal redet, ist da viel exponierter. (Petro unterlag bei den Präsidentschaftswahlen im Juni in der Stichwahl Iván Duque, Anm.)

Hat es damals bei M-19 auch so einen Vergebungsprozess gegeben: Wer sich zu den Taten bekannt hat, kam in den Genuss der Amnestie?

Nein, das war ganz anders. Unser Abkommen hatte neun Seiten, das mit der Farc hat mehr als 300 Seiten. Damals mussten nicht alle Details niedergeschrieben werden, weil es ein Grundvertrauen zwischen der Regierung und der M-19 gab. Wir haben ein Jahr lang verhandelt, die Farc sechs Jahre, und es ging um ganz andere Themen. Obwohl so etwas nicht vorgesehen war, haben wir wegen des Justizpalasts um Verzeihung gebeten.

Worum ging es dabei?

Die M-19 hat 1985 den Justizpalast gestürmt, um die Regierung wegen des Bruchs der damals laufenden Friedensverhandlungen anzuklagen. Das endete im Desaster, als die Armee das Gebäude stürmte und in Brand steckte. Es gab mehr als 100 Tote.

Mit Iván Duque ist im Juni ein Mann zum Präsidenten gewählt worden, der ein Protegé des ultra-rechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe ist. Was erwarten Sie von dieser Präsidentschaft?

Das ist nicht ganz leicht vorauszusagen. Kolumbien ist nicht mehr dasselbe Land wie einst unter Uribe, der von 2002 bis 2010 regiert hat. Ein Mann wie Gustavo Petro bekam mehr als acht Millionen Stimmen. Erst neulich gab es große Mobilisierungen gegen die Ermordung von Aktivisten und Anführern sozialer Bewegungen. Ein Präsident kann nicht mehr tun, was er will. Es gibt eine starke Opposition und viele Stimmen für den Frieden. Duque kann das Abkommen mit der Farc nicht in der Luft zerreißen, wie er am Beginn des Wahlkampfes angedroht hatte. Manche haben angesichts des Erfolgs von Duque von einer kommenden Diktatur gesprochen und dass man jetzt in den Untergrund gehen müsse. Ich glaube das nicht. Ich denke vielmehr, die Wahlen haben die Demokratie gestärkt, denn es gibt jetzt eine echte Opposition. Zum ersten Mal sind die Linke und das politische Zentrum so stark. Früher war das immer eine Randerscheinung. Diese Kraft wird nicht still bleiben. Wir müssen sehen, ob Duque verbindlich bleibt, wie in seiner Rede am Wahlabend, oder ob er sich radikalisiert. Als das Friedensabkommen in einem Referendum im Oktober 2016 niedergestimmt wurde, gab es gleich große Mobilisierungen, die es schließlich retteten. Das kann jederzeit wieder passieren.

Vera Grabe wurde 1951 als Tochter deutscher Einwanderer in Bogotá geboren. Sie schloss sich in den 1970er Jahren nach einem Wahlbetrug der Rebellenorganisation "Bewegung 19. April" (M-19) an und war dann bei den Friedensverhandlungen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre führend beteiligt. Danach wurde sie in den Senat gewählt und verbrachte anschließend drei Jahre im diplomatischen Dienst in Spanien.
Seit 20 Jahren leitet sie das von ihr gegründete "Observatorio para la Paz", das sich der Friedenserziehung widmet. Grabe war auf Einladung des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktlösung (ÖSFK) in Österreich. Sie sprach bei der Sommerakademie auf Burg Schlaining zum Thema "shrinking spaces.