"Wiener Zeitung": Man hat den Eindruck, als gäbe es kein anderes Thema mehr in der politischen Debatte als "Migration". Geht es Ihnen auch so?
Ivan Krastev: Ja. Das Thema beschäftigt die Öffentlichkeit. Vier Prozent aller Menschen leben heute außerhalb ihrer Geburtsländer. Was wir aus den politischen Debatten lernen können: Demografie wird zu einem wichtigen Teil unserer Politik. In einer modernen Demokratie gab es immer dann einen Machtwechsel, wenn die Wählerinnen und Wähler ihre Meinung änderten. Jetzt plötzlich kommt es zu einem Wechsel - nicht weil es einen Meinungsumschwung in der Wählerschaft gibt, sondern weil sich die Zusammensetzung der Wählerschaft ändert. Das ist in vielen Ost-mitteleuropäischen Ländern zu beobachten, wo viele Wählerinnen und Wähler das Land verlassen haben.

Wie erklären Sie sich die unterschiedlichen Sichtweisen in Sachen Migration zwischen Ost und West?
Die Frage, die man sich im Westen stellt, ist, wie man mit einer multikulturellen Gesellschaft am besten umgeht. Im Osten will man verhindern, dass eine multikulturelle Gesellschaft entsteht. Welch Ironie! Denn auch vor 100 Jahren gab es zwei Europas. Westeuropa, das war das ethnisch homogene Europa. Osteuropa, das war multikulti. Nur 66 Prozent der Bevölkerung Polens waren vor dem Ersten Weltkrieg ethnische Polen. Nach den zwei Weltkriegen gibt es wieder diese zwei Europas: ein multikulturelles Westeuropa und ein ethnisch homogenes Ost-Mitteleuropa. Heute sind mehr als 96 Prozent der Menschen, die in Polen leben, auch in Polen geboren. Nur vier Prozent der Bevölkerung Ungarns sind nicht in Ungarn geboren. Und bei diesen vier Prozent sind vielleicht sogar ethnische Ungarn, etwa aus Transsylvanien oder aus Serbien dabei. Zum Vergleich Österreich: 16 Prozent der Menschen, die in Österreich leben, sind nicht in Österreich geboren. Im Westen geht es nun darum, dass die politischen und ethnischen Mehrheiten befürchten, dass sie nicht genug politische Macht haben werden, um ihre kulturelle Hegemonie bewahren zu können. Deshalb rückt die Frage der kulturellen Identität im politischen Diskurs in den Vordergrund. In Osteuropa ist das Problem ein völlig anderes. Ganze Landstriche sind durch Emigration in den Westen entvölkert. In Ungarn haben in den letzten zehn Jahren mehr Menschen das Land verlassen, als nach dem Einmarsch der Sowjets im Jahr 1956.
Der Arbeitsmarkt steckt in den Ländern Ost-Mitteleuropas einer enormen Krise. Zwischen 2007 und 2017 haben drei Millionen Rumänen ihr Land verlassen. Drei Viertel von ihnen sind jünger als 35 Jahre. Das Ziel der nationalistischen Rhetorik in osteuropäischen Ländern ist es weniger, dafür zu sorgen, dass keine Migranten ins Land kommen - es wollen sich ja ohnehin kaum Ausländer in Ungarn, Rumänien oder Bulgarien niederlassen -, sondern es geht diesen nationalistischen Politikern darum, die eigene Bevölkerung davon zu überzeugen, das Land nicht zu verlassen. Die Botschaft lautet etwa: "Geht nicht in den Westen! Der Westen wird immer mehr wie der Orient! Wenn ihr in Europa leben wollt, dann bleibt doch hier!" Um diese Panik, die Osteuropa ergriffen hat, zu begreifen, muss man verstehen, dass Osteuropa mit einem Problem konfrontiert ist, wie es die DDR 1961 erlebt hat.
Die osteuropäischen Länder sind mit einem massiven Exodus von Menschen konfrontiert. In einem Nebenschauplatz geht es wohl auch um eine Konkurrenz um Jobs in Deutschland, Österreich oder Skandinavien zwischen Bürgern aus EU-Ländern und Migranten von außerhalb der EU. Jedenfalls besteht bei Europas Politikern heute Einigkeit darüber, dass die Außengrenzen Europas gestärkt werden müssen. Und das ist auch richtig so. Denn die europäischen Länder sollen Menschen nur so weit zur Teilhabe in ihren Gesellschaften einladen, soweit sie in der Lage sind, diese Menschen zu integrieren. Versäumt man das, dann produziert man soziale Probleme, die die Stabilität der Gesellschaft gefährden.