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"Die Toten in der Wüste sieht niemand"

Von Michael Ortner

Politik

Care-Länderdirektor Ely Keita über die anhaltende Terrorgefahr, das explodierende Bevölkerungswachstum und warum der Staat das Schlepperwesen nicht stoppen kann.


Wien. Niger zählt zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Die Bevölkerung ist bitterarm und wächst rasant. Hungerkrisen und Terrorgruppen bedrohen das Land. Niger ist aber auch das Drehkreuz für Migranten nach Europa. Tausende durchqueren die Wüste nach Norden. Die EU fordert deshalb, dass Niger stärker seine Grenzen kontrolliert - für den ohnehin überforderten Staat eine aussichtslose Aufgabe. Ely Keita, Länderdirektor für Niger der Hilfsorganisation Care, erklärt im Interview, warum die Grenzsicherung unmöglich ist.

"Wiener Zeitung": Welche Rolle spielt Niger für die Migration von Afrika nach Europa?

Ely Keita: Die meisten Migranten wollen in die Stadt Agadez im Norden des Landes. Von dort aus versuchen sie mit Hilfe von Schmugglern durch die Wüste zu kommen. Das läuft alles geheim ab: Wer Schlepper ist, wird durch Mundpropaganda verbreitet. Wir nennen sie im Französischen "passeur". Die passeurs kennen die Wüste sehr genau. Sie wissen, wo sie fahren müssen. Sind sie erst einmal mit den Migranten unterwegs, verlangen sie mitten in der Wüste nach noch mehr Geld. Sie erpressen die Menschen, indem sie ihnen drohen, sie in der Wüste zurückzulassen.

Wie hat das Gesetz gegen illegale Migration vom Mai 2016 die Situation verändert?

Es gibt an jeder größeren Busstation eine große Werbefläche, auf der gewarnt wird: Wer jemanden bei der illegalen Migration hilft, begeht ein Verbrechen. Wer erwischt wird, muss eine Strafe zahlen oder wandert ins Gefängnis. Trotzdem umgehen die Menschen das Gesetz. Für die passeurs geht es schließlich ums Geschäft. Was ist ihre Alternative? Es gibt keine anderen Einkommensquellen. Denn der Terrorismus von Al-Kaida und Co. hat den Tourismus in der Region zerstört.

War Agadez denn ein Touristenort?

Ja, vor der Rebellion der 1990er-Jahre und der Al-Kaida-Bewegung. Das Geld der Touristen half den Menschen. Heute haben sie keine Perspektive mehr. Viele der Männer, die jetzt als Schlepper arbeiten, fuhren früher die Touristen zu den Sanddünen.

Ist es überhaupt möglich, die Grenzen Nigers zu kontrollieren?

Die Schlepper kennen die Routen des Militärs und weichen dementsprechend aus. Es geht darum, Informationen zu teilen. Sicherheitskräfte haben Verwandte in der Stadt, manche plaudern aus, auf welche Routen sie fahren. Vergessen Sie außerdem nicht, dass der nördliche Nachbar Libyen ein failed state ist. Selbst für die nigrische Armee gibt es Regionen, in die sie nicht fährt, weil bewaffnete Milizen dort operieren. Deshalb ist es unmöglich für die Regierung, die Grenzen zu kontrollieren.

Wissen Sie, wie viel die Menschen den passeurs zahlen müssen?

Ich habe einmal mit einem jungen Mann aus Mali gesprochen. Er erreichte die libysche Grenze nicht, weil er vom nigrischen Militär festgenommen und zurückgeschickt wurde. Er zahlte um die 2000 Dollar. Als ich ihn getroffen habe, hatte er nichts mehr in seinen Taschen. Es gibt keine Statistik darüber, wie viel die Menschen ihnen bezahlen.

Es gab Medienberichte, dass Algerien Migranten in der Wüste ausgesetzt hat. Was wissen Sie darüber?

Die Chance, ohne Wasser und Lebensmittel bei Temperaturen von 50 Grad zu überleben, sind gering. Niemand weiß, wie viele Menschen in der Wüste umkommen. Wenn im Mittelmeer ein Flüchtlingsschiff untergeht, erfährt man davon. Die Toten in der Wüste sieht niemand. Selbst für die Schlepper ist das schlecht fürs Geschäft.

Was bedeutet die Migration für die Menschen im Land?

Die Frage ist vielmehr: Wie viel von dem Geld, das Niger von der EU erhält, verbessert das Leben der Menschen. Derzeit gibt es mehr als 2,5 Millionen Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist. Ich verstehe, dass die Regierung aufgrund der Bedrohung durch terroristische Gruppen unter Druck steht. Wir haben die Migranten und sollen auch noch die Grenzen sichern. Es fehlt jedoch an Ressourcen. Wo auch immer die Regierung Geld erhält, steckt sie es in Sicherheit. Da bleibt für Gesundheit, Soziales und Bildung nicht mehr viel übrig.

Warum mangelt es an Lebensmitteln?

Der Hauptgrund ist der Klimawandel. Landwirtschaftliche Flächen werden immer kleiner, weil die Erosion des Bodens zunimmt. Regenzeiten in der Sahelzone bleiben aus. Bei Care versuchen wir, Anbautechniken für die Bauern zu adaptieren und Saatgut zu optimieren. Meteorologen teilen ihr Wissen außerdem mit den Bauern. Der zweite Grund für den Mangel ist das demografische Wachstum. Eine Frau in Niger bringt durchschnittlich 7,9 Kinder in die Welt. Das Wirtschaftswachstum kommt bei diesem Bevölkerungswachstum nicht mehr hinterher. Die Fruchtbarkeitsrate ist die höchste der Welt.

Warum ist die Fruchtbarkeitsrate so hoch?

Es gibt soziale Normen, die junge Mädchen benachteiligen. Eines von vier Mädchen wird im Alter von 14 oder 15 Jahren verheiratet. Das ist ein Riesenproblem. Aber in der traditionellen Stammeskultur gehören Mädchen in die Küche. Sie müssen die Rolle der Hausfrau erfüllen. Das frühe Verheiraten hat auch einen wirtschaftlichen Grund. Wenn ein Vater eine Tochter verheiratet, hat er einen Mund weniger zu ernähren. Care arbeitet mit Oberhäuptern von Communities zusammen, um sicherzustellen, dass die Mädchen weiter die Schule besuchen können. Wenn Sie in der Schule bleiben, stehen die Chancen gut, dass sie nicht zu früh verheiratet werden.

Die EU plant Auffanglager in Nordafrika. Glauben Sie, dass es möglich wäre, solche Lager in Niger umzusetzen?

Ich glaube, dass es möglich wäre, wenn die Länder Nordafrikas zustimmen. Aber was ist die Auswirkung davon? Migranten werden es trotzdem weiter versuchen, Europa zu erreichen, weil diese Zentren keine hundertprozentige Sicherheit geben. Manche werden versuchen zu fliehen. Ich bin auch skeptisch, weil diese Zentren weit weg von Europa wären. Es besteht die Gefahr, dass Menschenrechte verletzt werden.

Wie schätzen Sie derzeit die Gefahr der Terrorgruppe Boko Haram ein?

Die Situation mit Flüchtlingen aus Nigeria hat sich etwas verbessert. Aber wir haben rund 300-400.000 Nigriner, die aus ihren Dörfern flüchten mussten. Sie haben nahe der Grenze zu Nigeria gelebt und waren ein leichtes Ziel für die Terrorgruppe Boko Haram. Wir haben die Menschen umgesiedelt, weiter weg von der Grenze. Zwischen ihnen und der Grenze gibt es jetzt eine militärische Pufferzone, um die Zivilisten zu beschützen. Boko Haram hat zwar in Niger viel an Kraft verloren, aber sie verüben immer wieder Selbstmordanschläge. Die Sahara ist voll von militanten Gruppen. Sie wissen genau, dass die Regierungen zu wenig Ressourcen haben. Sie sind sogar besser bewaffnet als die regulären Armeen.

Was muss die internationale Gemeinschaft unternehmen, um die Migration zu stoppen?

Wir müssen das Problem an der Wurzel packen. Warum wollen so viele junge Menschen ihre Heimat verlassen? Der Grund ist Hoffnungslosigkeit. Die Bildungssysteme in vielen afrikanischen Ländern sind schlecht, es gibt nicht genug Arbeit für alle. Junge Menschen haben keine Zukunftsperspektive. In Niger sind etwa 52 Prozent der Menschen jünger als 18 Jahre. Aber das Hauptproblem ist die Korruption. Wie viel Geld versickerte irgendwo und floss nicht dorthin, wo es gebraucht wurde? Wenn aus einem armen Land wie Mali große Geldmengen in ein Steuerparadies fließen, darf man sich nichts vormachen. Das ist kein sauberes Geld. Die internationale Gemeinschaft muss endlich die Korruption bekämpfen.

Ely Keita ist Länderdirektor der Hilfsorganisation Care in Niger. Er hat mehr als 27 Jahre Erfahrung in Entwicklungs- und Katastrophenhilfe. Sein Team unterstützt die Bevölkerung unter anderem mit Lebensmittelgutscheinen, Pflanzensamen und Hygienekits.