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Die Revolution der Eliten

Von Sarah Yolanda Koss

Politik

Während Studierende aus den Großstädten Nicaraguas und an der Pazifikküste für einen politischen Umsturz kämpfen, stoßen die Proteste bei der indigenen Bevölkerung der Karibikküste auf Unverständnis.


Managua. In Managua ist die Stimmung mehr als angespannt. Seit April dieses Jahres kommt es immer wieder zu Protesten in dem mittelamerikanischen Land, die sich jederzeit wieder in eine gewaltsame Niederschlagung durch Polizei und Paramilitärs münden könnten.

Eigentlich hatte die Opposition Mitte August die Regierung zurück an den Verhandlungstisch gerufen. Damit die Gewalt ein Ende nimmt, politische Gefangene freigelassen und Neuwahlen vorgezogen werden.

Doch Präsident Daniel Ortega machte bisher keine Zugeständnisse. Ganz im Gegenteil. Vergangene Woche nannte er einen Bericht des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, UNHCR, ein "Instrument von Terrorpolitik, Lüge und Niedertracht". Die UNO hatte in dem Bericht die Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua kritisiert. Angeprangert werden darin die "unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt, die sich manchmal in außergerichtlichen Hinrichtungen niederschlägt", das "Verschwindenlassen" von Menschen, "massenhafte willkürliche Inhaftnahme" sowie "Folter und Misshandlungen".

Ortegas Antwort: Die Arbeitsgruppe des UN-Menschenrechtskommissariats wurde am Freitag des Landes verwiesen.

Am Wochenende gingen die Menschen wieder auf die Straße. Dabei erlitten zwei Regierungsgegner, die bei dem Protestmarsch mitmachten, Schussverletzungen. Bewaffnete Männer mit den schwarz-roten Fahnen der Regierungspartei Sandinistische Nationalen Befreiungsfront (FSNL) von Staatschef Daniel Ortega hätten von einem Kleintransporter aus in die Luft geschossen, sagte eine Augenzeugin vor Journalisten.

Das Regime versucht unterdessen, das Bild der Normalität in der Hauptstadt zu waren. In Managua trocknet die Farbe von kürzlich übermalten Protestgraffitis. Dazwischen ragen Plakate mit den Bildern eines breit lächelnden Ortegas in die Höhe.

Doch ein Lokalaugenschein spricht eine andere Sprache. Anfang August, am Tag der Paraden zur Feier des Stadtheiligen Santo Domingo, sind beinahe keine Menschen auf der Straße. Stattdessen sperren die Lokale bei Sonnenuntergang die Türen zu, aus Furcht vor Ausschreitungen im Zuge der Feierlichkeiten.

Die Hauptstadt ähnelt einer perfekt renovierten Geisterstadt. Und tatsächlich haben mittlerweile viele ihre Heimat verlassen.

Costa Rica wird zum temporären Zufluchtsort

Unter ihnen ist der Philosophiestudent Norman. Er wohnt seit zwei Monaten in einem Hostel in Guatemala Stadt. Ihm fehlt eine letzte Prüfung, um sein Studium zu beenden, doch die Universität ist aufgrund der Ausschreitungen seit Monaten geschlossen. Nun versucht er, einen Job als Telefonist in einem Callcenter zu ergattern. Bis dahin sitzt er in seinem schwarzen Rollkragenpullover auf dem Balkon, liest einen Zeitungsartikel nach dem anderen, zwischendurch streicht er sich mit der Hand über das kurzgeschorene Haar. Und raucht aus Mangel an Beschäftigung eine Zigarette nach der anderen. Viele seiner Bekannten sind mittlerweile in Costa Rica, das Asyl gewährt hat. Im Sommer waren es nach Auskünften des UNHCR mitunter über 200 Menschen täglich.

"Wir warten seit Jahren aufden richtigen Moment"

Trotzdem sind die Demonstrationen für Norman ein Grund zur Freude: "Wir haben seit Jahren auf den richtigen Moment für eine Revolution gewartet." Die Studierenden hatten schon lange genug von einer Regierung, in der Korruption und das gewaltvolle Beseitigen von politischen Gegnern als offenes Geheimnis gelten. Das die Opposition im Zuge der letzten Präsidentschaftswahl quasi ausgeschaltet wurde und Ortega seine Frau zur Vizepräsidentin gemacht hat, hat die Stimmung nicht verbessert.

Als die Regierung schließlich im April eine Pensionsreform anstrebt, scheint der richtige Moment gekommen. Nicht etwa, weil die Reform die sozialistischen Umverteilungsmaßnahmen Ortegas mindern und ihn bei der ärmeren Bevölkerung unbeliebt machen würde. Sondern weil die erwarteten Pensionskürzungen vor allem reichere und Familien der oberen Mittelklasse treffen würden. "Zum ersten Mal waren wir sicher, dass bei Demonstrationen das notwendige Kapital hinter uns steht", erklärt Norman. Und so kommt es, dass diesmal anstelle der gewohnten Universitätsblockaden und -streiks ein landesweiter, von Unternehmerverbänden unterstützter Protest entsteht.

Normans Familie ist ein Beispiel für die aufgeladene Stimmung Nicaraguas. Sein Onkel, ehemaliger Bürgermeister Managuas, trat 2006 mit einer Oppositionspartei gegen Ortega an. Vier Monate vor der Wahl starb er an einem Herzinfarkt. Für Norman steht fest: Der Onkel wurde vergiftet. Normans Vater arbeitet für die Regierung. Der ist wiederum der Meinung, dass hinter den Demonstrationen in Nicaragua US-amerikanische Unruhestifter und Sponsoren stecken. Das, was auch Ortega immer wieder trommelt. "Ich denke, mein Vater möchte daran glauben", ergänzt Norman.

Dass die USA als Sündenbock herhalten müssen, ist nicht ganz weit hergeholt. Schließlich hat sich Washington im Laufe der Jahrzehnte wiederholt in die Politik des Landes eingemischt. Beginnend 1912 um den Sturz der Marionettenregierung des konservativen Präsidenten Adolfo Díaz zu verhindern, über die Unterstützung der darauf folgenden Diktatur der Familie Somoza, die erst 1979 durch eine sandinistische Revolution beendet wurde. Später versorgten die USA im Zuge der Contra-Affäre die Kämpfe gegen die sandinistische Regierung in den Jahren 1981 bis 1990.

Dementsprechend ist es für Ortega ein Leichtes, die Demonstrationen gegen seine Regierung in den öffentlichen Medien als erneute Intervention der USA darzustellen. Doch Norman ist überzeugt: abgesehen von Einzelfällen wie seinem Vater, stehe das ganze Land hinter den Protesten. Nicaragua wolle eine Veränderung.

Auf die Studierenden an der Pazifikküste scheint dies zuzutreffen.

"Es gab schon vielschlimmere Regierungen"

Doch nicht im ganzen Land ist das der Fall. Bluefields, das Zentrum der autonomen und großteils indigenen Region der Karibikküste mit seinen braunen Flüssen und seinen Häusern mit der abblätternden Farbe ist ein guter Indikator für die Entwicklung der Proteste.

Hier blieb es bereits während der sandinistischen Revolution der 1980er Jahre die längste Zeit friedlich. Somoza lud damals US-Amerikaner ein, diese Region des Landes zu besuchen, um zu beweisen, dass die anhaltenden Proteste kein tatsächlicher Grund zur Sorge wären. Ist der Widerstand hier angekommen, hat er tatsächlich das gesamte Land erfasst.

Bis jetzt begrenzen sich die Proteste gegen die Regierung auf vereinzelte sandinistischen Gruppen die Ortega nur vorhalten, kein wahrer Sandinist zu sein - sie verurteilen den "Danielismo", den Personenkult. Aber Fuß gefasst hat die Ansicht, dass Ortega weg müsse, hier nicht.

Und das hat seinen Grund. Die Regierung Ortegas hat in den vergangenen Jahren insbesondere die ärmere Bevölkerung der Karibikregion mit sozialstaatlichen Förderungen unterstützt. Unter anderem wurde die Infrastruktur ausgebaut, der Bildungszugang vereinfacht und finanziert. Die Kritik der Studierenden stößt auf Unverständnis, Ortega steht für Sicherheit und wirtschaftlichen Aufschwung. "Die protestierenden Studierenden haben ihre freie Ausbildung wegen Daniel!", empört sich die Kellnerin Mykelin, während sie sich in ihrer Pause eine Tasse Instantkaffee gönnt.

Die Sozialreformen, die die Bevölkerung seit Jahren bei Laune halten, werden von einer allgemeinen politischen Resignation gestützt. "Ja, die Politik ist korrupt und ja, es kommt immer wieder zu Morden", gibt Mykelin zu. Aber so sei Politik doch immer. Das Ortega seine Frau zur Vizepräsidentin gemacht habe, sei ein Fehler gewesen. Aber, befindet sie: "Es gab schon viel schlimmere Regierungen, die gar nichts für die Bevölkerung getan haben." Fragt man die Menschen hier nach ihrer Meinung zu den Protesten, bekommt man besonders ein Thema zu hören: Die durch die Straßenblockaden entfachte Lebensmittelknappheit. Mykelins Ehemann Josue erachtet den durch die Proteste entstandenen Mangel an Salz, Reis, Zucker und Touristen als ein "größeres Problem" an, als die Regierung.

Nicaragua befindet sich in einem Widerstand gegen ein Regime, aber der Schulterschluss zwischen Elite und Allgemeinbevölkerung ist noch nicht geglückt. Das Vertrauen in Ortega ist verloren, gleichzeitig verhindern die durch die Geschichte des Landes entfachte Paranoia und Resignation einen gemeinsamen Aufstand.