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Bolsonaros unerwartete Wähler

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Politik
Sie wählt Bolsonaro, trotz allem: Caroline Andrade.
© Lichterbeck

Der Ex-Militär verspricht Brasilien, mit der Kriminalität aufzuräumen. Das reicht vielen, um über anderes hinwegzusehen.


Rio de Janeiro. Plötzlich steht der Präsidentschaftskandidat vor Carolina Andrade. Sie ist auf dem Weg zur Arbeit in Rio de Janeiros Stadtteil Botafogo, als er aus einem Auto steigt, um Passanten zu begrüßen. Sofort bildet sich ein Menschenauflauf, alle wollen ein Selfie mit ihm machen. Andrade sieht, wie er seine Hände zu Pistolen formt, die auf ein imaginäres Ziel feuern. Es ist sein Markenzeichen in diesem Wahlkampf. Die Menge skandiert seinen Spitznamen: "Mito, mito!" Es heißt Mythos. "Ein Mythos ist er nicht", sagt Carolina Andrade, die sich während des Tumults am Rande hält. "Aber er ist vielleicht die letzte Hoffnung, die Brasilien hat."

Der Mann, um den es geht, heißt Jair Messias Bolsonaro. Er ist 63 Jahre alt, beschimpft regelmäßig Schwarze, Indios und Frauen. Er hält Hitler für einen "großen Strategen". Dieser Jair Bolsonaro könnte der nächste Präsident Brasiliens werden. Auch dank Carolina Andrades Stimme. Er führt in allen Umfragen zum ersten Wahlgang am 7. Oktober und wird es mit Sicherheit in die Stichwahl schaffen.

Wie aber ist es diesem Mann gelungen, Carolina Andrade und Millionen anderer Brasilianer zu begeistern? Die einfache Antwort lautet: Jair Bolsonaro bündelt die Wut, die Angst und Unzufriedenheit vieler Menschen. Sie sind wütend auf die korrupte politische Klasse. Sie haben Angst vor der ausufernden Kriminalität. Und sie leiden unter der miserablen wirtschaftlichen Lage mit 13 Millionen Arbeitslosen. Viele Brasilianer haben schlichtweg die Nase voll. Carolina Andrade gehört dazu.

Dabei ist die 39-Jährige eine ganz ungewöhnliche Wählerin des Rechtsaußen. Die beiden trennen Welten: Andrade ist schwarz, alleinerziehende Mutter und Geringverdienerin. Aber sie hat ein Motiv, das stärker ist als alle Zweifel: "Bolsonaro wird kurzen Prozess mit den Kriminellen machen." Man trifft Andrade an einem Septemberdienstag in einem der vielen Shoppingcenter in Rios wohlhabender Südzone. Sie spricht mit sanfter Stimme, die nicht recht passen will zum Zorn in ihren Sätze. Sie trägt Schuhe mit Absätzen, ihre Haare hat sie geglättet, wie es viele schwarze Frauen tun. Es ist ihr Arbeitsoutfit. Andrade ist Maklerin in einer Immobilienfirma. Aber sie arbeitet auf eigene Rechnung, was bedeutet, dass sie nur bei einem Vertragsabschluss Geld bekommt. "Es ist wegen der Wirtschaftskrise immer weniger geworden", sagt sie. "Ich komme kaum noch über die Runden."

Von den Sozialprogrammen, die der linke Kandidat Fernando Haddad, der Erbe Lulas in der Arbeiterpartei, propagiert, hält Andrade nichts: "Mich überzeugt das nicht", sagt sie. Für das Gespräch hat sie zwei Stunden Zeit, dann muss sie in einen Pendlerbus besteigen. Vor wenigen Wochen ist sie zu ihrer Mutter an die Peripherie Rios gezogen, weil sie die Miete für ihr Zimmer in Copacabana nicht mehr bezahlen kann. Wenn sie Glück hat, ist sie in anderthalb Stunden dort. Wenn sie Pech hat, werden drei daraus. "Es ist eine unsichere Gegend", sagt Andrade. Ihre Tochter im Teenageralter lässt sie nicht mehr alleine zum Bäcker gehen.

Während sich ihre Lage also verschlechterte, hat Andrade in den letzten Jahren erlebt, wie fast wöchentlich Politiker in riesige Korruptionsskandale verwickelt wurden. In Brasília steht heute mehr als die Hälfte der insgesamt 594 Kongressmitglieder im Verdacht, korrupt zu sein.

Grassierende Gewalt

"Dieses Geld fehlt an allen Ecken und Enden", sagt Andrade. Etwa in der Schule ihrer Tochter, in der es kein Papier mehr gibt. In ihrem überfüllten Bus ohne Klimaanlage. Im Fernsehen sieht Andrade Berichte über Schwangere, die im Krankenhausflur gebären, weil es zu wenig Betten gibt. Und dann erlebt sie, wie das älteste Museum des Landes niederbrennt, weil die Hydranten in der Umgebung kein Wasser führten.

Das Geld fehlt nicht zuletzt auch für öffentliche Sicherheit. Und das spüren viele Brasilianer hautnah. Zu Carolina Andrade kam das Verbrechen vor 17 Jahren, als ihr Vater ermordet wurde. Ein Nachbar, mit dem er sich gestritten hatte, lockte ihn in seine Wohnung und tötete ihn. Obwohl kein Zweifel an der Täterschaft bestand, wurde der Nachbar wegen schlampiger Ermittlungen nie verurteilt. Bis heute ist er frei. Das Erlebnis wirkt bis heute nach, auch weil Andrade und ihre Mutter nie eine Entschädigung erhalten haben. "Es gibt keine Gerechtigkeit in Brasilien", sagt sie. "Die Verbrecher könnten machen, was sie wollen."

Man hört das oft dieser Tage in Brasilien. Das Land verzeichnete vergangenes Jahr fast 64.000 Morde. Es ist die höchste Mordzahl der Welt. Einer der Gründe ist die Straflosigkeit: 95 Prozent der Fälle landen nie vor einem Richter. Bei anderen Verbrechen ist die Aufklärungsrate noch geringer. Auch deswegen hat im Februar das Militär in Rio de Janeiro die Kontrolle über den ineffizienten Sicherheitsapparat übernommen. Die Bilder von Soldaten an der Copacabana gingen um die Welt. Nur genutzt hat es nichts.

"Ich werde ausmisten"

Carolina Andrade wurde schon mehrfach ausgeraubt. "Das ist normal", sagt sie. Jair Bolsonaro hat versprochen, damit Schluss zu machen.

Sein zentrales Wahlkampfversprechen lautet: Jeder Brasilianer darf eine Waffe tragen, um sich zu verteidigen. Er befürwortet die Folter und will der Polizei eine Lizenz für außergerichtliche Exekutionen erteilen. In einem Interview sagte er: "Wenn ein Polizist 20 Kriminelle tötet, gehört er ausgezeichnet." Diese Kampfansage an das Verbrechen findet Andrade gut. Aber sie hat auch Kritik an ihrem Kandidaten. Ihr behagen seine Nähe zum Militär und seine verbalen Aggressionen gegen Andersdenkende nicht.

"Ich bin für die Demokratie." Warum sie dennoch für Bolsonaro stimmt? "Weil es keine Alternativen gibt." Tatsächlich scheint da niemand zu sein, der einen Kompass hat. Einer, der eine positive Vision von Zukunft formuliert und Mut macht. "Ich werde ausmisten", verspricht er. Carolina Andrade und Millionen anderer Brasilianer wollen glauben.