Zum Hauptinhalt springen

Brasilien, die Demokratie und die Diktatur

Von Konstanze Walther

Politik

Bei einer Diskussionsveranstaltung am Lateinamerika-Institut Wien war die Angst vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft spürbar.


Wien/Brasilia. Celia Mara ist entsetzt. Die brasilianische Sängerin, die in Wien wohnt, hat in den vergangenen Monaten zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich viele Freundinnen aus ihrer Kindheit und Schultagen, die sie einer Kleinstadt im Bundesstaat Minas Gerais verbrachte, inzwischen Fans von Jair Bolsonaro sind. Das Argumentieren mit ihren Bekannten ist sinnlos, Argumente werden nicht gehört: "Es gibt eine so starke Polarisierung", erzählt Mara bei einer Diskussionsveranstaltung des Lateinamerika-Instituts Wien und der Organisation Globalista zum Thema "Brasilien am Scheidepunkt - hat die Demokratie eine Chance?" Maras Urteil: "Brasiliens Bevölkerung hat den Weg zur Demokratie noch nicht gefunden." Denn wie sonst könnte es sein, dass Bolsonaro, ein Verherrlicher der Militärdiktatur, in den Umfragen mindestens ein Drittel der Brasilianer erreicht. Nämlich diejenigen, die sich mit der Militärdiktatur nicht beschäftigt haben - die ja auch in Brasilien niemals richtig aufgearbeitet worden sei.

Brasilien wählt am Sonntag Präsidenten und Kongress. Bolsonaro wird es wohl in die Stichwahl schaffen. Fraglich ist, wer der Gegenkandidat sein wird.

Die Legende Lula

Die besten Chancen werden Fernando Haddad eingeräumt, dem Kandidaten der Arbeiterpartei PT, der angetreten ist, um das Erbe des Übervaters Lula - Luis Inácio Lula da Silva - zu verteidigen. Der Ex-Präsident sitzt im Gefängnis, er kann nicht bei der Wahl antreten. Für viele seine Anhänger ist die Verurteilung wegen Korruption ein Skandal. "Es gab keinen Beweis", sagt etwa der in Wien anwesende Aktivist von dem PT, Cidoli Aparecido. Lulas Richter sei ein Teil einer internationalen Bewegung, die versuche, linke Regimes in ganz Lateinamerika zu destabilisieren. "Wir müssen diese internationalen Interventionen erkennen", sagt Aparecido vom Komitee "Free Lula".

Dass es durchaus Ungereimtheiten in Sachen Geschenkannahme bei Lula gegeben hat, erwähnt Aparecido nicht. Doch auch die moderateren Lula-Fans weisen gerne daraufhin, dass, selbst wenn die Vorwürfe gegen Lula stimmen, sie doch eine Kleinigkeit gegenüber jenen Korruptionsvorwürfen bei anderen Politikern und Parteien sei. In Brasilia stehen mehr als die Hälfte der 594 Kongressmitglieder im Verdacht, korrupt zu sein. Doch gegen amtierende Abgeordnete kann nicht ermittelt werden. Lula hatte zum Zeitpunkt des Prozesses kein Mandat.

Der Ökonom und Brasilien-Experte Bernhard Leubolt, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholischen Sozialakademie KSÖ, erinnert bei der Veranstaltung daran, dass in der Zeit der Amtsperioden von Lula und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff von 2003 bis 2016 sich zwar der Mindestlohn fast verdoppelt habe. Aber im Gegenzug hatte die eingesessene Mittelschicht am wenigsten dazugewonnen. Menschen, die darüber erbost waren, dass sie sich ihre Haushilfe nicht mehr 24 Stunden, sieben Tage die Woche leisten konnten, die protestierten, dass der Flughafen nun aussieht wie ein Busbahnhof. Mit anderen Worten: "verslumt".

Leubolt ist vorsichtig mit dem Wort "Putsch" in Zusammenhang mit der Amtsenthebung von Dilma Rousseff 2016. Denn es waren keine Militärs: "Der parlamentarische Putsch wurde auch von der revoltierenden Mitte der Zivilgesellschaft mitgetragen", so Leubolt. Zu den Budgettricks, die der offizielle Grund waren, weshalb Rousseff aus dem Amt enthoben wurde, meint Leubolt: "Das sind Budgettricks, die in fast allen Bundesstaaten genauso angewandt werden." Doch die Präsidentin musste den Hut nehmen. Ihr konservativer Vize, Michel Temer, der nachgerückt ist, hatte versprochen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, und zwar mittels "Schocktherapie". Die Reformen der Arbeiterpartei sollten rückgängig gemacht werden. Doch trotzdem ist die Wirtschaftskrise Brasiliens, zwei Jahre nach der Machtergreifung Temers, nicht annähernd überwunden.