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Die Proteststimmen für Bolsonaro

Von WZ-Korrespondent Philipp Lichterbeck

Politik

Der rechte Kandidat fürs Präsidentenamt erhält im ersten Durchgang mehr Stimmen als erwartet.


Atins/Brasilia. Um 16 Uhr macht sich Magda Aguiar auf, um zu wählen, die Nachmittagshitze hat schon etwas nachgelassen. Sie stapft in Flipflops durch den tiefen Sand zum einzigen Wahllokal von Atins, einem Fischerdorf im armen brasilianischen Bundesstaat Maranhão. Der Tourismus wächst hier seit einigen Jahren, und die 26-Jährige arbeitet an der Rezeption eines Hotels. Für die Wahl hat sie eine halbe Stunde frei bekommen. Insgesamt sieben verschiedene Nummernkombinationen gibt sie in die elektronische Wahlmaschine ein, für verschiedene Abgeordnete, Senatoren, einen Gouverneur und zuletzt für den brasilianischen Präsidenten. Ihre Wahl fällt auf Fernando Haddad von der linken Arbeiterpartei (PT). Aguiars Begründung: "Er gehört zu Lulas Partei. Und Lula hat viel für uns getan. Der andere macht mir Angst. Er sagt viele gewalttätige Dinge."

Der andere, das ist der deutliche Gewinner der ersten Runde der brasilianischen Präsidentschaftswahlen vom Sonntag: Jair Bolsonaro, der rechtsextreme Verteidiger der Militärdiktatur. Er holte 46 Prozent der Stimmen und verpasste damit die absolute Mehrheit nur knapp. Nun tritt er in der Stichwahl gegen Fernando Haddad an, den Kandidaten von Magda Aguiar. Haddad, einst Bildungsminister und Bürgermeister von São Paulo, holte 29 Prozent.

Die Chancen sind hoch, dass Bolsonaro die Stichwahl am 28. Oktober gewinnt und das nächste Staatsoberhaupt der größten Nation Lateinamerikas mit 210 Millionen Einwohnern wird.

Nordosten profitierte von Lula

Magda Aguiar in Atins fürchtet sich davor. Sie hat besonders Angst vor Bolsonaros Ankündigung, jedem Brasilianer das Recht zu geben, eine Waffe zu tragen und sich gegen Kriminelle zu verteidigen. "Es herrscht doch schon so viel Gewalt in Brasilien, und es laufen so viele Dummköpfe ohne Bildung herum", sagt sie. Tatsächlich gibt es in keinem Land der Welt mehr Morde als in Brasilien. 2017 waren es fast 64.000. Magda Aguiar weiß aus eigener Erfahrung, dass das Bildungssystem in Brasilien eine Katastrophe ist. Vor ihrem jetzigen Job war sie Lehrerin in einer Provinzstadt. Aber als in dem Ort der Bürgermeister wechselte, besetzte er alle öffentlichen Posten mit seinen Anhängern, sogar in der Schule. Aguiar gehörte nicht zu ihnen. "So ist das hier", sagt sie.

Haddads Arbeiterpartei hat unter der Präsidentschaft von Lula da Silva (2003-2011) mit Sozialprogrammen und Infrastrukturprojekten aber viel für den Bundesstaat Maranhão getan. Aguiars Mutter erhielt damals eine staatliche Unterstützung, die sogenannte Bolsa Familia (Familienstipendium). Es waren umgerechnet rund 20 Euro im Monat für jedes Kind, das in der Schule erschien und geimpft wurde. Bolsonaro hat bereits angekündigt, Bolsa Familia einer "Revision" zu unterziehen. Viele Familien im Nordosten Brasiliens, zu dem Maranhão gehört, profitieren bis heute von diesen Zahlungen. Es ist einer der Gründe, warum Haddad hier oben fast 50 Prozent der Stimmen holte. Der ärmere und dunkelhäutige Nordosten Brasiliens verhinderte den Wahlsieg Bolsonaros schon im ersten Wahlgang.

Bolsonaro soll aufräumen

Das heißt nicht, dass Bolsonaro nicht auch hier, in Maranhão, viele Wähler hat. Einer davon ist Anderson Moreira. Er ist ein Nachbar von Magda Aguiar, wohnt nur ein paar Häuschen den Sandweg hinunter. Der 37-Jährige ist Fischer und besitzt einen kleinen Lebensmittelladen. Dort wird kein Alkohol verkauft, weil Moreira evangelikaler Christ ist. Seine Kirche hält Alkohol ebenso wie Abtreibung und Kommunismus für des Teufels. Während über den Bildschirm die ersten Wahlergebnisse flimmern, sagt Moreira, dass seine Stimme für Bolsonaro Protest war. Es gebe leider sonst niemanden mehr, den man wählen könne. Lulas Arbeiterpartei sei heute korrupt. Tatsächlich war die Arbeiterpartei (wie alle großen Parteien Brasiliens) tief in die massiven Korruptionsskandale verwickelt. Es hat unter vielen ihrer einstigen Wähler zu großer Enttäuschung geführt. Auch Anderson Moreira hatte Lula gewählt, als dessen Arbeiterpartei vor 15 Jahren die Macht in Brasilien übernahm. Das Versprechen war: Wir machen eine andere, eine saubere Politik. Heute sitzt Lula im Gefängnis.

Bolsonaro ist es gelungen, die Enttäuschung vieler einfacher Menschen wie Anderson Moreira aufzufangen. Gleichzeitig profitiert er vom regelrechten Hass der weißen Oberschicht auf die Arbeiterpartei. Bolsonaro ist zum obersten Vertreter des sogenannten Anti-PTismus geworden. Moderate Konservative spielten keine Rolle mehr. Dieser Rechtsruck lässt sich auch in der Sprache wiederfinden. Bolsonaro ruft etwa seinen Anhängern zu: "Wir werden die PT-Leute an die Wand stellen." Woanders wäre das strafbar, in Brasilien aber hat man sich daran gewöhnt. Mit Bolsonaro hat eine totale Enthemmung der Sprache und der Gewaltfantasien stattgefunden. Bei vielen Brasilianern herrscht der Wunsch, aufzuräumen. Dieses Gefühl bedient Bolsonaro. So werden die Ungeheuerlichkeiten, die er von sich gibt, Nebensächlichkeiten. Anderson Moreira ignoriert etwa, dass Bolsonaro gesagt hat, dass Schwarze nicht einmal zur Reproduktion taugten. Moreira selbst ist dunkelhäutig, hat schwarze und indigene Vorfahren. Aber die Sehnsucht nach etwas Neuem ist bei ihm stärker als alle Zweifel, auch wenn er auf Nachfrage einräumt, dass Bolsonaro schon "ein bisschen verrückt" sei.

Magda Aguir hält "verrückt" für einen Euphemismus. Sie sagt: "Bolsonaro ist eine Gefahr für die Demokratie." Dieser Einschätzung ist nicht übertrieben. Noch in der Wahlnacht bezweifelte Bolsonaro den Wahlausgang und deutete an, dass manipulierte Urnen seinen Sieg verhindert hätten. Er präsentierte keinen einzigen Beweis für seine Behauptung. Vor seiner Kandidatur saß Bolsonaro 27 Jahre lang im Parlament in Brasilía. Er brachte in dieser Zeit lediglich zwei Gesetzesvorhaben durch, machte sich aber als Fürsprecher der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985) einen Namen.

Der Polizei will er einen Blankoscheck zur Tötung Krimineller ausstellen, seine Wirtschaftspolitik ist neoliberal. Die Steuern für Reiche will Bolsonaro senken, Gewerkschaften hält er für überflüssig. Anderson Moreira in Atins stört das als freiberuflichen Fischer weniger, aber seine Nachbarin Magda Aguiar findet es "zum Kotzen". Sie arbeitet derzeit sieben Tage in der Woche an der Rezeption eines Hotels, täglich neun Stunden für monatlich umgerechnet 350 Euro. "Das ist doch unfair", sagt sie. "Soll es noch schlimmer werden?" Es sind Fragen, die sich viele Brasilianer bei dieser Wahl nicht gestellt haben. Sie möchten, dass sich die Dinge in Brasilien radikal ändern. Wie, das ist ihnen fast egal.