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Schlüsselland Irak

Von WZ-Korrespondentin Birgit Svensson

Politik

"Mörderische Freiheit. Leben zwischen Himmel und Hölle im Irak" heißt das neue Buch, das Nahost-Expertin und "Wiener Zeitung"-Korrespondentin Birgit Svensson verfasst hat. Hier exklusiv ein Vorabdruck.


Bagdad. Irak ist das Schlüsselland für die Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens. Irak ist das Schicksal für die Region: Nahe Vergangenheit und Zukunft liegen hier eng beieinander. Doch das Schicksal ist dieses Mal nicht die Verbreitung einer Hochkultur wie zu Zeiten Mesopotamiens, sondern eines weltumspannenden Terrors, der in Afghanistan begann, sich im Irak fortsetzte und dort vervollständigte.

Die Kriege in Syrien, Libyen, Jemen und jetzt auch in der Türkei mit den Kurden sind die Folge. Die Krisen am Golf, im Libanon, die Flüchtlingskatastrophe in Jordanien, die Stellvertreterkriege zwischen Saudi Arabien, dem Iran und Israel, der Terror in Ägypten wären ohne das Desaster im Irak schwer vorstellbar.

Plötzlich war alles möglich

Die Region sähe heute völlig anders aus. Ohne das Erstarken religiöser extremistischer Gruppen, dem die US-Administration tatenlos zusah, wäre der Bürgerkrieg in Syrien längst zu Ende, und im Jemen hätte er erst gar nicht begonnen. Ohne das Erstarken Irans, das durch das Machtvakuum im Irak begünstigt wurde, würde sich Saudi Arabien nicht so massiv herausgefordert fühlen. Blutige Konflikte um die Vormachtstellung im Nahen Osten sind die Folge, die sich zu Weltkriegen auswachsen. Die neue Weltordnung der Amerikaner, wie sie sie in ihrer Hybris mit der Invasion in den Irak 2003 schaffen wollten, wurde zum Scherbenhaufen der Weltpolitik.

Einen Zusammenhang zwischen der sogenannten Arabellion in den Ländern Tunesien und Ägypten mit dem Desaster im Irak bezweifeln viele. Ich dagegen bin überzeugt, dass die Aufstände dort sehr wohl mit der Entwicklung im Irak zusammenhängen. Die Tatsache, dass ein "großer arabischer Führer" wie Saddam Hussein gestürzt werden konnte, hinterließ Spuren bei der jungen Bevölkerung Arabiens. Seine Unverwundbarkeit war plötzlich nicht mehr gegeben, alles wurde möglich. Die bewusste Demütigung des vermeintlich Unantastbaren, als er aus dem Erdloch herausgezogen und verhaftet wurde, verfehlte nicht die psychologische Wirkung.

Autokraten auf dem Vormarsch

Das Foto, das Saddam verwahrlost und zerzaust zeigt, als er eine Speichelprobe zur Identitätsfeststellung abgeben muss, ging um die Welt und prägte sich in das Gedächtnis vieler, vor allem junger Menschen der Region ein. Dadurch wuchs die Begehrlichkeit, auch andere Gewaltherrscher loszuwerden. Der Dominoeffekt, auf den George W. Bush bei der Invasion in den Irak spekulierte, setzte also tatsächlich ein, verkehrte sich jedoch in das Gegenteil dessen, was der damalige US-Präsident erreichen wollte. Nicht Demokraten sind im Nahen und Mittleren Osten auf dem Vormarsch, sondern Autokraten, Diktatoren und Gewaltherrscher, die weit brutaler, rücksichtsloser und gewalttätiger sind als vordem. Oft mit dem Argument, keinen zweiten Irak zu wollen, lassen Regime wie das syrische und das ägyptische eher ihr Land untergehen, als dass sie Kompromisse eingehen, um Macht und Ressourcen zu teilen.

Viele Einwohner der Region sahen, so sehr sie sich Saddam zum Teufel wünschten, in der Invasion im Irak 2003 eine neue Demütigung und erinnerten sich an 1798, als Napoleon mit überlegenen Waffen in ihre Welt einbrach und nach Jahrhunderten islamischer Glanzzeit die westliche Überlegenheit demonstrierte. Oder an 1916, als durch das britisch-französische Sykes-Pikot-Abkommen die Region willkürlich auseinandergerissen und den Kolonialmächten zugeteilt wurde. Oder an 1967, als der ihnen aufgezwungene Nachbarstaat Israel im Sechs-Tage-Krieg die Ägypter und Syrer vernichtend schlug. Oder an 2001, als ihnen nach den Terroranschlägen in New York und Washington kollektive Verachtung und Misstrauen entgegengebracht wurden. Vor allem junge Araber unter 25 Jahren, die die Mehrheit in den meisten Ländern im Nahen Osten bilden, machen diese Entwicklungen für die heutige Misere verantwortlich und klagen die westlichen Länder an, zu lange die Lähmung ihrer Gesellschaften durch die Unterstützung der autokratischen Herrscher mit befördert zu haben - Vetternwirtschaft und Korruption inbegriffen. Der sich schnell formierende internationale Widerstand gegen die westlich dominierte Kriegsallianz im Irak vereinte Unzufriedene, Frustrierte und Wütende aus der ganzen Region. Seitdem verlaufen unzählige Fronten aus dem Irak hinaus. Dabei werden Allianzen sichtbar, die vor 2003 undenkbar waren.

Die irakische Stadt Ramadi nach der Befreiung aus den Händen des IS. Über 60 Prozent der Stadt sind komplett zerstört.
© Svensson

Die sunnitisch-wahabitischen Länder Saudi-Arabien und Katar, Verbündete des Westens, finanzierten ab 2005 den irakischen Widerstand gegen die US-geführte Allianz genauso wie der fundamentalistisch schiitische Iran. Teheran ließ Kämpfer der sunnitischen Terrororganisation Al-Kaida ungehindert von Afghanistan in den Irak ziehen und stattete sie zuweilen sogar mit Geld und Proviant aus. Aus Syrien wurden Waffen und Munition auf einer Schmuggelroute über Rabia nach Mossul und in die Provinz Anbar geleitet, gekauft mit Geld aus Riad, Doha und anderen Golfstaaten. Die Befürchtung war groß, dass nach Saddam Hussein auch weitere Despoten der Region dem Untergang geweiht sein könnten. Irak durfte also nicht der Auslöser für einen Umbruch im Nahen Osten werden. Und wurde es dennoch. Jetzt sind sogar die einstigen Terror-Finanziers im Irak Saudi-Arabien und Katar verfeindet.

Pure Machtinteressen

Zwar führen Israel und Iran schon lange einen Krieg der Stellvertreter und Geheimdienste. Die Islamische Republik rüstete noch vor dem Sturz Saddam Husseins die Hisbollahmiliz im Libanon mit mehr als 100.000 Raketen aus und versorgte die radikalislamischen palästinensische Hamas mit Waffen und Geld. Hier wird deutlich, dass es sich eben nicht um einen Religionskonflikt handelt. Es geht um pure Machtinteressen. Während die Hisbollah im Libanon schiitischen Glaubens sind, ist Hamas rein sunnitisch. Jerusalem befürchtete deshalb von Anfang an, dass Irans Unterstützung letztlich die Absicht verfolgt, Israel zu vernichten. Doch erst der enorme Einflusszuwachs des Ajatollah-Regimes im Irak und der dadurch realisierbar werdende schiitische Halbmond unter der Ägide Teherans verschärft die Konturen und lässt die Absichten deutlich erkennen.

Saudi-Arabien sieht seine bisherige Vormachtstellung in den arabischen Ländern gefährdet und tut derzeit alles, den Einfluss Irans einzudämmen. Von Damaskus bis ins jemenitische Sanaa befindet sich die gesamte arabische Welt mittlerweile in der Geiselhaft dieser beiden Regionalmächte. Sogar das ebenfalls wahabitisch geprägte Katar bekam den Zorn der saudischen Glaubensbrüder zu spüren. Für den Versuch einer Annäherung an Teheran kassierte der Emir in Doha einen Boykott des Golfkooperationsrates unter der Führung Saudi-Arabiens.

"WZ"-Korrespondentin Birgit Svensson auf Lokalaugenschein in Ramadi.
© Svensson

Absprachen mit Israel

Dafür geht Riad immer mehr Verbindungen mit dem Erzfeind Israel ein. Nach dem Motto, der Feind meines Feindes ist mein Freund, werden vermehrt gemeinsame Absprachen getroffen, Aktionen koordiniert und Absichten bekundet. Die Palästinenser im Westjordanland, die sich stets der Unterstützung Saudi-Arabiens und der Golfstaaten gegen Israel gewiss sein konnten, mussten nun mit ansehen, dass die Verlegung der amerikanischen Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem keinen Flächenbrand der Empörung in der arabischen Welt auslöste, wie es früher noch der Fall gewesen wäre. Die Israelis jubelten, die Saudis schwiegen, die Proteste blieben auf die Palästinensergebiete beschränkt. Wären die Spannungen zwischen Teheran und Riad nicht so gravierend, hätte der gesamte Nahe und Mittlere Osten eine Protestwelle nach der anderen verzeichnet. Denn sowohl Saudi-Arabien als auch der Iran hatten jahrelang das Existenzrecht Israels in Abrede gestellt.

In Syrien tritt dieser Schattenkrieg seit Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 noch offener zutage. Die Schmuggelroute über das irakische Rabia funktioniert nun in die andere Richtung. Aus Al-Kaida ist der IS geworden, dessen Operationsbasis zunächst Syrien wird. Saudi-Arabien und auch Katar unterstützen islamistische Gruppen wie Al Nusra, die gegen Bashar al-Assad kämpfen, Teheran schickt militärische Ausrüstung und Truppen zur Unterstützung des Diktators.

Das Bild ändert sich

Der Irak indes unterstützt nahezu alle Bürgerkriegsparteien, je nach Zugehörigkeit. Im Vielvölkerstaat zwischen Euphrat und Tigris halten die schiitisch geprägte Regierung in Bagdad und die von Teheran unterstützten Schiitenmilizen zum Machthaber in Damaskus. Assad erhält Kämpfer aus Basra, Najaf, Kerbela. Nahezu wöchentlich kommen Särge mit toten irakischen Milizionären aus Syrien im Süden Iraks an. Nachdem sie die Terrormiliz IS aus dem irakischen Norden weitgehend vertrieben haben, kämpfen sie jetzt weiter in Syrien. Dort allerdings geht es nicht nur wie im Irak allein gegen den IS, sondern gegen unterschiedliche Gruppierungen. So finden sich sunnitische Milizionäre, die noch vor einigen Monaten zusammen mit ihren Stammesführern Ramadi oder Falludscha in der irakischen Provinz Anbar vom IS befreiten, in den Reihen der Freien Syrischen Armee oder das, was vom ursprünglichen Widerstand gegen Machthaber Assad noch übrig ist. Auch extreme sunnitische Rebellengruppen werden von den irakischen Stammesmilizen unterstützt. Ihre Kooperation mit Saudi-Arabien ist ein offenes Geheimnis. Irakische Kurden wiederum unterstützen ihre Volksgenossen in Nordsyrien gegen die Intervention der Türkei. Das Schicksal Iraks setzt sich also in Syrien fort.

Birgit Svensson Mörderische Freiheit: Leben zwischen Himmel und Hölle im Irak. 237 Seiten, Hardcover 22,70 Euro. Als eBook: 16,99 Euro ISBN 978-3-451-81321-4

Neues Diktat der Religion

Doch fünfzehn Jahre nach der Invasion im Irak und dem Sturz Saddam Husseins ändert sich das Bild allmählich. Die jungen Einwohner des Landes machen nicht mehr so sehr die Amerikaner und Briten verantwortlich für die Misere in ihrem Land. Sie schimpfen auf ihre eigenen Politiker, die es die ganzen Jahre nicht vermocht haben, das Land neu zu strukturieren und ihnen eine lebenswerte Perspektive zu geben. Junge Leute bekommen kaum Aufstiegschancen, geschweige denn einen Arbeitsplatz. Millionen von Petro-Dollar verschwinden in den Taschen der politisch Verantwortlichen. Diese haben jahrelang die religiöse Karte gespielt und damit ihre Macht gefestigt. Die Diktatur Saddam Husseins wurde durch das Diktat der Religion ersetzt. Seit 2005 stellte die fundamentalistisch schiitische Dawa-Partei stets den Regierungschef in Bagdad. Erst das Jahr 2018 scheint einen Wendepunkt zu markieren. Nicht nur, dass der Volksmund eine neue Zeitrechnung - vor und nach dem IS - eingeführt hat. Auch die Protestbewegung, die es zwar schon seit 2014 gibt, gewinnt jetzt an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus. Es habe noch nie so viele Atheisten im Irak gegeben wie heute, berichten Universitätsstudenten landesweit.

Für mich ist die Jugend im Irak der Hoffnungsträger. Sie allein kann eine Wende herbeiführen. Es sind die jungen Iraker, die derzeit über ethnische und religiöse Grenzen hinweg denken und agieren, während ihre Eltern und Großeltern darin gefangen sind. Es sind die jungen Iraker, die für die Einheit ihres Landes eintreten und sich den Fliehkräften und Separatisten entgegenstellen. Ganz bewusst heiraten junge Schiiten Sunniten, sogenannte Sushi-Ehen sind zumindest in Bagdad gerade in Mode.

Es sind die jungen Iraker, die im Mai 2018 zur Parlamentswahl gingen, säkulare und gemischt ethnische Parteien wählten. Es sind junge Frauen, die voranschreiten und Zeichen setzen. Bagdad ist die einzige Stadt in der arabischen Welt, die von einer Frau als Oberbürgermeisterin regiert wird. Sie sei heute zwar noch die einzige Frau im Nahen und Mittleren Osten, sagt sie. "Aber nach mir werden noch weitere kommen." Schon steht die Vermutung im Raum, dass eine Irakerin bald die erste Regierungschefin der Region werden könnte.

Dass der Generationenwechsel, der ja auch ein Gesinnungswandel ist, nicht so einfach vonstattengeht, zeigt sich überall, vor allem aber in der Politik. Dort wird seit den Parlamentswahlen und dem Sieg der Bürgerbewegung Sa’irun heftig gerungen. Es ist ein Kampf Alt gegen Neu, Jung gegen Alt. Diejenigen, die keinen Sitz im Parlament mehr bekamen, sprechen von erheblichen Wahlfälschungen und Betrug. Von Neuwahlen ist mehr und mehr die Rede. Zwar hat Premier Haidar al-Abadi dem Wahlsieger Moktada al-Sadr zu seinem Sieg gratuliert und damit das Ergebnis akzeptiert, was einer demokratischen Haltung gleichkommt. Doch nur zwei Tage später focht auch er das Ergebnis an und sprach von Unregelmäßigkeiten. Kurz nachdem der Gerichtshof die Auszählung aller Stimmen von Hand anordnete, ging ein Depot mit Wahlurnen in Flammen auf. Darin sollen die Stimmzettel der östlichen Bagdader Bezirke verbrannt sein, Bezirke, in denen Sa’irun die meisten Wählerstimmen holen konnte. Doch auch die Neuauszählung änderte am Endergebnis kaum etwas. Zwei neue Parteien tragen den Wahlsieg davon, die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament ist neu und jung. Allerdings gibt sich die alte politische Elite noch nicht geschlagen. Ihre Politiker drängen jetzt in die Regierung. Der Generationenkampf geht weiter.

Immer wieder auferstanden

Das Faszinierende am Irak sind seine Menschen, die so viel erlitten und gekämpft haben, gedemütigt wurden, geschlagen und gefoltert. Die aber immer wieder auferstanden sind, ihre Würde bewahrt haben und voller Hoffnung in die Zukunft blicken. "Wenn du Überlebenstraining haben willst, komm zu uns nach Bagdad", sagt meine Freundin oft. "Hier lernst du, was es heißt zu leben." Ich habe es gelernt - fünfzehn Jahre lang und werde Bagdad auch weiter als meine zweite Heimat behalten. Meine Reportagen sind deshalb den Menschen im Irak gewidmet.