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Afghanische Mutprobe

Von WZ-Korrespondent Thomas Ruttig

Politik

Mit dreijähriger Verspätung wird am Samstag in Afghanistan ein neues Parlament gewählt. Die Angst vor Anschlägen und ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber ihren Volksvertretern könnten auf die Beteiligung drücken.


Kabul. Nach großer Materialschlacht ist in Afghanistan der Wahlkampf zu Ende gegangen. Bevor bis zu 8,8 Millionen Afghanen - so viele ließen sich in die Wahlerlisten eintragen - am Samstag ihre Stimmen für die Wahl des neuen Parlaments abgeben, herrscht eine zweitägige Stillhalteperiode. Ohnedies beginnt am Donnerstag das islamische Wochenende, weshalb die Behörden geschlossen sind. Und weniger Verkehr auf den Straßen bedeutet für die Sicherheitskräfte, dass sie die drastischen Sicherheitsmaßnahmen besser umsetzen können.

Die Schulen, von denen viele zu Wahllokalen umgerüstet werden, sind landesweit schon seit Montag geschlossen. Die Lehrer wurden als Wahlhelfer verpflichtet. Seit Wochenmitte hat die Regierung zudem damit begonnen, sieben bis zwölf Soldaten und Polizisten pro Wahllokale zu stationieren - zumindest in der Hauptstadt Kabul. Insgesamt sollen über 50.000 Regierungssoldaten die Wahlen sichern.

Die aufständischen Taliban haben gedroht, "alle Hebel in Bewegung zu setzen", die Wahlen zu verhindern. Die Lehrer forderten sie auf, nicht mit der Regierung zu kooperieren und ihre Schüler und Studenten und deren Familien dazu zu bringen, der Abstimmung fernzubleiben. Sie erklärten, in den von ihnen kontrollierten Gebieten - etwa die Hälfte des Landes - blieben die Schulen offen. Zudem erklärten sie die Sicherheitskräfte zum Ziel ihrer bevorstehenden Angriffe. Zivilisten sollen geschützt werden.

Zuletzt nahmen die gewalttätiger Vorfälle deutlich zu fort. In der Provinz Helmand tötete am Mittwoch ein Bombe den Abgeordneten Abdul Jabar Kachraman. Sie war unter seinem Bürosessel platziert. Er ist bereits der zehnte Abgeordnete, der in den vergangenen zwei Monaten ermordet wurde. Schwerster Zwischenfall war der Bombenanschlag auf eine Wahlkundgebung in der Provinz Tachar am vergangenen Wochenende mit 22 Todesopfern und mehr als 30 Verletzten. Die Kandidatin, für die die Veranstaltung organisiert worden war, war zum Zeitpunkt der Explosion noch nicht am Kundgebungsort und blieb ungeschoren. Zudem wurde über die vergangenen Tage in mindestens einem Dutzend Provinzen gekämpft.

Angst vor Terrorakten

Schon jetzt ist klar, dass am Wahltag 5100 von über 7300 Wahllokalen nicht öffnen werden. Die Sicherheitskräfte sehen sich nicht in der Lage, sie zu sichern. Damit verlieren beträchtliche Teile der Bevölkerung die Möglichkeit, sich an diesem Urnengang zu beteiligen.

Bisher ist die Situation jedoch insgesamt vergleichsweise ruhig, vor allem in Kabul. Viele Kabuler denken aber, das könnte die Ruhe vor dem Sturm sein. Sie befürchten, das vor allem der örtliche Ableger des IS am Wahltag weitere Selbstmordattentate verüben könnte, vor allem nach bisherigem Muster in den von der starken und gut organisierten schiitischen Minderheit bewohnten Gebieten. Insgesamt dürften viele Afghaninnen und Afghanen am Samstagvormittag erst einmal abwarten, wie sich am Morgen die Sicherheitslage entwickelt. Sollten Taliban und/oder IS massiv zuschlagen, könnte sich das auf die Wahlbeteiligung auswirken.

Zur prekären Sicherheitslage kommt weit verbreitete Skepsis unter den Wählern. "Die Kandidaten kümmern sich nur vor den Wahlen um uns, danach vergessen sie ihre Versprechen", sagt Automechaniker Muhibullah* aus Kabul. Unter der Hand sagen selbst junge, gut gebildete Regierungsangestellte, die Präsident Aschraf Ghani unterstützt haben, dass sie nicht wählen gehen werden. Andere würden gern, wenn sie wüssten, dass ihre Stimme zählt: Die neuen biometrischen Geräte, die die Fingerabdrücke von Wählern speichern sollen, um Mehrfachvoten zu verhindern, sind manipulationsanfällig.

Insgesamt bewerben sich am Samstag landesweit 2565 Kandidaten für die 250 Parlamentssitze, darunter 418 Frauen. Allein in Kabul sind es 804, davon 119 Frauen. Jede der 34 Provinzen ist ein Wahlbezirk, dem nach der jeweiligen Bevölkerungszahl eine Anzahl von Sitzen zugeteilt wurde. Kabul hat mit 33 die meisten. In jeder Provinz ist eine Anzahl von Sitzen für Frauen reserviert; in Kabul sind das neun. Auch für Nomaden, Sikhs und Hindus gibt es eine Quote. Parteien dürfen keine Listen aufstellen, jede Kandidatin, jeder Kandidat geht als Einzelperson ins Rennen. In Kabul ist deshalb der Wahlzettel, auf dem jeder registrierte Wähler seinen Favoriten finden muss, 15 Seiten stark. Viele Menschen sind hier immer noch Analphabeten, für sie ist es schwierig, sich auf darin zurechtzufinden.

Illustre Wahlwerber

Auf den Listen drängen sich jede Menge Unbekannte. Darunter sind viele, die "ihre zehn Minuten als Politstar genießen wollen", spottet Schams Amiri*, der Jus studiert hat, aber als Wachtmann arbeitet. Dazu kommen einige der reichsten Geschäftsleute des Landes, die sich politisches Prestige und in manchen Fällen auch parlamentarische Immunität verschaffen wollen, sowie Verwandte zahlreicher Warlords, die die Macht ihrer Familien auch in der nächsten Generation absichern wollen. Beide Gruppen überlappen sich oft.

Respekt genießt hingegen Ramazan Baschardost, ein ehemaliger Minister, der in Kabul zur Wiederwahl antritt und mit seiner im afghanischen schwarz-rot-grün gespritzten Rostlaube auf Straßenwahlkampf setzt. Sein Wahlslogan: "Nehmt das Brot der Diebe, aber gebt eure Stimme mir." Das spielt auf die weit verbreitete Sitte an, Wähler bei Wahlveranstaltungen zu verköstigen. Kandidat Baqi Samandari hat sich als Aktivist und jahrelanger Helfer von Straßenkindern einen Namen gemacht. Ähnliches gilt für Sahra Jagana, die sich um Hinterbliebene von Terroropfern kümmert und eine Freiwilligengruppe von Umweltschützern gegründet hat, die Kabuls notorisch verdreckte Parks und Straßen säubern. In Herat kandidiert mit Maria Bashar eine Frau, die die erste Staatsanwältin in der Geschichte des Landes war.

"Es kommen ja nur 250 Kandidaten durch", sagt Rahmatullah Amiri, der bei einem Kabuler Thinktank arbeitet. "Und die anderen 2315 werden Gründe finden, um zu behaupten, ihr Ergebnis sei manipuliert worden."

Vorläufige Ergebnisse soll es auch erst am 10. November geben, und das Endergebnis nach einer Einspruchsperiode erst am 20. Dezember.

*Name geändert