Zum Hauptinhalt springen

Die Rückkehr des Damoklesschwerts

Von Gerhard Lechner

Politik

Der Welt droht ein neues Wettrüsten - und Europa im Extremfall ein Szenario wie zur Zeit des Kalten Krieges.


Washington/Moskau. US-Präsident Donald Trump ist bekanntlich kein übergroßer Fan von Abkommen, die er nicht selbst abgeschlossen hat. So kündigte der Milliardär das Handelsabkommen TTP mit den Pazifikstaaten, verhinderte das Zustandekommen des TTIP-Abkommens, das den Handel mit Europa hätte regeln sollen, und zog sich auch aus dem Pariser Klimaschutzabkommen zurück. Nun soll ein weiterer US-Alleingang in einem besonders sensiblen Bereich folgen: dem der Rüstung. Am Montag befand sich Trumps Sicherheitsberater John Bolton in Moskau, um mit der russischen Führung über den Plan der USA, aus dem INF-Abrüstungsvertrag auszusteigen, zu sprechen. Ob es dabei zu echten Verhandlungen gekommen ist, darf bezweifelt werden - schließlich gilt der Plan, aus dem 1987 noch mit der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow abgeschlossenen Vertrag auszusteigen, wesentlich auf die Initiative Boltons zurück. Der gilt in US-Politkreisen als Scharfmacher, als eine Art Falke unter den Falken.

Für Europa immens wichtig

Trump begründete den geplanten Ausstieg der USA damit, dass Russland vertragsbrüchig geworden sei. Auf einer Wahlkampfveranstaltung erklärte er, es sei nicht hinnehmbar, dass die USA sich an das Abkommen hielten, Russland aber nicht. Sollte Russland und auch China einem neuen Abkommen nicht zustimmen, würden die USA die bislang verbotenen Waffen bauen.

Der INF-Vertrag verbietet unter anderem den Bau und den Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Raketen oder Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern. Die Zerstörung dieser Waffen wurde gegenseitig kontrolliert. INF ist die Abkürzung von "Intermediate Range Nuclear Forces" - auf Deutsch: nukleare Mittelstreckensysteme.

Die durch den INF-Vertrag verbotenen Atomwaffen kürzerer und mittlerer Reichweite haben insbesondere für Europa eine große Bedeutung. 1975 hatte die Sowjetunion in Osteuropa die sogenannten SS-20 Mittelstreckenraketen aufgestellt und dadurch Westeuropa bedroht. Vor allem der bundesdeutsche Kanzler Helmut Schmidt trieb daraufhin den sogenannten Nato-Doppelbeschluss voran, die Aufstellung von US-Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing 2.

Gegenseitige Vorwürfe

Die Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten bargen das hohe Risiko eines atomaren Konflikts, da sich durch sie die Vorwarnzeiten erheblich verkürzt hatten. Dadurch stieg auch die Gefahr, dass ein Atomkrieg versehentlich oder durch einen technischen Fehler ausgelöst wird. Ein tatsächlicher oder auch nur ein vermeintlicher Angriff hätte umgehend eine Gegenreaktion provoziert. Der Schauplatz in einem Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion wäre in jedem Fall Europa gewesen, die atomare Auslöschung lag wie ein Damoklesschwert über dem Kontinent. Entsprechend umstritten war der Doppelbeschluss, gegen den sich in Deutschland eine ganze Friedensbewegung gestellt hatte.

Der Vertrag zwischen Gorbatschow und dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan hat dieses Damoklesschwert von Europa genommen. Entsprechend eindringlich rief die EU-Kommission am Montag Moskau und Washington zur Beibehaltung des Abkommens auf. Der Vertrag sei ein "wichtiger Eckstein der europäischen Sicherheitsarchitektur", der erhalten bleiben müsse, sagte eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. Russland warnte Trump vor dem Ausstieg aus dem Abkommen. Das werde "die Welt gefährlicher machen", sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Russland wäre dann gezwungen, Maßnahmen zur Wiederherstellung des militärischen Gleichgewichts zu ergreifen. Einen atomaren Erstschlag Moskaus schloss Peskow aber aus - selbst bei einem drohenden Atomangriff der USA.

Die US-Regierung beschuldigt Russland, mit seiner Rakete mit dem Nato-Code SS-C-8, die eine Reichweite von 2600 Kilometern haben soll, den INF-Vertrag zu verletzen. Russland bestreitet das und behauptet, die Rakete nur in der (erlaubten) kurzen Reichweite bis zu 500 Kilometern getestet zu haben. "Außerdem wirft der Kreml den USA die Verletzung des Vertrages durch das sogenannte MK-41-System vor", sagt Russland-Experte Gerhard Mangott der "Wiener Zeitung". Diese Tomahawk-Mittelstreckenraketen könnten, so befürchten die Russen, von jenen Rampen in Osteuropa aus auf Russland abgefeuert werden, die offiziell nur dem US-Raketenabwehrsystem in Europa dienen - und wären daher eine unmittelbare Bedrohung.

Weiterrüsten wahrscheinlich

Trotz der apokalyptischen Dimension, die dem Thema innewohnt, fiel die Reaktion auf den US-Ausstieg in Moskau eigentümlich schaumgebremst aus. Das dürfte daran liegen, dass auch Russland mit dem 1987 abgeschlossenen Vertrag nicht mehr allzu glücklich ist. Immerhin besitzen mittlerweile zahlreiche Staaten von China über Indien bis Pakistan derartige Raketen - und sind durch kein Abkommen gebunden. "Moskau wollte daher das Abkommen schon vor zehn Jahren multilateralisieren", sagt Mangott. "Nun wollen das die USA, um die Aufrüstung Chinas einzudämmen. China benötigt seine Mittelstreckenraketen, um die US-Flotte von seinen Küsten fernzuhalten", analysiert der Experte. Dass Peking das tun werde, sei aber nur wenig wahrscheinlich - weshalb wohl weiter gerüstet werde.

Können Russland und die USA die Rüstungsspirale zumindest in Europa nicht unterbinden, wäre eine Stationierung von US-Raketen in Polen und im Baltikum wahrscheinlich - und das Damoklesschwert des drohenden Atomkrieges in Europa zurück.