Wien. Die Schlange vor dem Café Central ist geduldig. Entspannt harren die Touristen bei noch so widriger Witterung aus, zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten auf einen Tisch wartend. Es gibt zwar andere Cafés in der Umgebung, bei denen man nicht anstehen muss. Im Café Central aber müsse man gewesen sein, schreiben Besucher auf der Internet-Reiseplattform Tripadvisor. 10.701 Mal wurde das Café in der Herrengasse dort bewertet - meist mit "ausgezeichnet". Und steht nicht in jedem Reiseführer, dass Sigmund Freud, Leo Trotzki und Franz Kafka regelmäßig dort verkehrten? Das muss doch eine kleine Wartezeit wert sein.

Bald könnten die Reisenden noch länger warten. Wien ist attraktiv. Immer mehr Touristen zieht es in die Stadt. Die Nächtigungszahlen haben sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. 7,7 Millionen Nächtigungen wurden 1998 verzeichnet, 2017 waren es 15,51 Millionen. Und auch 2018 - die Jahresstatistik liegt noch nicht vor - ist mit einem Höchststand zu rechnen: Von Jänner bis Oktober 2018 gab es bereits ein Plus von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Die Attraktivität birgt Gefahren. Städte wie Amsterdam, Barcelona und Venedig können ein Lied davon singen. Touristisches Leben verdrängt dort einheimisches, mancher Stadtteil hat sich vollends der Reiseindustrie unterworfen. Denn der anschwellende Besucherstrom verteilt sich kaum, sondern fließt in die immer gleichen Straßen und Sehenswürdigkeiten. So auch in Wien, wo Bereiche in der Innenstadt und eine Handvoll Attraktionen außerhalb besucht werden. Ein Beispiel ist Schönbrunn, wo der Eintritt ins Schloss kostenpflichtig ist. 3,8 Millionen Eintritte wurden 2017 gezählt, 2002 hatte man noch 1,85 Millionen Tickets verkauft.

"Ein Slalomlauf"
Besonders betroffen sind die Kärntner Straße und ihre Umgebung. Dort klopft der Unmut an die Türen der Anrainer. Der Opernsänger Clemens Unterreiner ist einer von ihnen. Seit seiner Geburt lebt er in einer Seitengasse der Kärntner Straße. "Grundsätzlich ist es eine Wohltat, etwas Besonderes, im Zentrum einer Stadt aufwachsen und leben zu dürfen", schwärmt er. Doch liegt ihm auch ein Klagelied auf den Lippen.

"Es ist umständlicher geworden, in der Innenstadt zu leben", sagt Unterreiner. Früher habe man noch geraden Schrittes über die Kärntner Straße gehen können. "Nun gleicht es einem Slalomlauf durch Touristenmassen, Schanigärten, Happenings und Straßenmusikanten. Die Innenstadt ist eine Entertainment-Zone geworden." Deutlich enthemmter und lauter gehe es zu, auch der Partytourismus habe zugenommen, meint er. "Ein lebendiges, einheimisches Leben findet nicht mehr statt." Dabei bestehe der Charme einer Innenstadt gerade aus dem bunten Gemisch an Touristen und Einheimischen.

