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Die Feigheit der Genossen

Von Bernd Vasari

Politik

100 Jahre nach Beginn des Roten Wien fehlt den Sozialdemokraten der Mut für tiefgreifende Reformen.


Wien. Stolz blicken die Sozialdemokraten dieser Tage in die Vergangenheit. Vor genau hundert Jahren fanden die ersten demokratischen Gemeinderatswahlen in Wien statt. Die SPÖ holte die absolute Mehrheit, die Ära des Roten Wien begann. Noch heute verweist die Partei auf ihre Leistungen und Visionen von damals, ihren erfolgreichen Kampf gegen Armut, Ausbeutung, Chancenlosigkeit, auf die gewonnene Würde der Arbeiter, die mit ihren gestählten Körpern die Plakate der Arbeiterpartei schmückten.

Doch was bleibt vom Stolz, wenn der Blick auf den heutigen Zustand der Partei fällt? Wofür stehen die Sozialdemokraten noch? Wo ist ihr Platz in der heutigen Zeit? Wen wollen sie ansprechen?

Die Wähler wissen es immer seltener, sie wenden sich von Wahl zu Wahl ab. Neue Visionen und Ideen in der Partei fehlen, oder werden nur halbherzig vertreten. Auch charismatische Personen an der Spitze gibt es nicht. Im Machtzentrum Wien führt mit Michael Ludwig ein grauer Apparatschik die Partei, auf Bundesebene ist es die farblose Vorsitzende Pamela Rendi-Wagner, die mehr auf korrekte Beistrichsetzung in ihren Tweets achtet, als auf verständliche und überzeugende Aussagen, die verschwurbelt formuliert, verpuffen.

Richtig verständlich wird die Partei nur, wenn sie auf alte Muster zurückgreift. Willi Mernyis Rede vor einem Jahr ist so ein Beispiel. Rhetorisch brillant zerlegt der Bundesgeschäftsführer der Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen (FSG) die gerade beschlossene Einführung des 12 Stunden Tags durch die Bundesregierung. Aggressiver Unterton, breiter Dialekt und ein 17 Kilo schwerer Pflasterstein auf dem Pult.

Mernyi erzählt vom Floridsdorfer Pflasterer Günther, der um 4 Uhr in der Früh aufsteht, um 6 Uhr auf der Baustelle seine Arbeit aufnimmt, in acht Stunden Arbeitszeit 3400 Kilo an Pflastersteinen über sein Kreuz legt. Kniend, wie Mernyi sagt, ohne bezahlte Pausen. Seine Stimme bebt, die linke Hand klatscht im Stakkato auf den Pflasterstein, als Mernyi den Genossen vorrechnet, was ein 12-Stunden-Tag für Günther bedeuten würde: Nochmal 1800 Kilo über sein Kreuz. Beschlossen von Leuten, die in ihrem ganzen Leben noch nie kniend gearbeitet haben, noch nie gespürt haben, wie die Sonne dabei brennen kann, fügt er hinzu. Tosender Applaus.

Reden wieeine Kleinpartei

In Mernyis Rede spiegelt sich Glanz und Elend der Partei wider. Vor Jahrzehnten hätte eine Rede wie diese noch zig-tausende Wählerstimmen gebracht. Aber heute? Der Floridsdorfer Pflasterer Günther ist vom Aussterben bedroht. Schwerarbeit wird kaum noch von Österreichern verrichtet. Und in Zukunft werden diese Tätigkeiten von Maschinen und Robotern übernommen. Mernyis Rede, so mitreißend und leidenschaftlich sie auch sein mag, ist für eine Kleinpartei geschrieben, nicht mehr für eine Volkspartei, die Massen an Arbeitern hinter sich weiß.

Rund zwei Drittel der erwerbstätigen Österreicher sind Dienstleister. Sie arbeiten in Büros, steuern Öffis, sitzen im Supermarkt an der Kassa. Körperliche Schwerarbeit leistet keiner von ihnen. Die Geschichte von Günther betrifft sie nicht, die Ängste und Zukunftssorgen der Dienstleister werden in dieser Erzählung nicht berührt.

Es ist viel mehr die Angst den Job zu verlieren, die sie beschäftigt. Wenn durch die fortschreitende Digitalisierung weniger Menschen nötig sind, um die Arbeit zu verrichten, die Angst, vor Migranten aus Niedriglohnländern, die den Job billiger erledigen, die Angst den digitalen Anschluss zu verlieren an die Generation der Digital Natives, die mit Computern, Smartphones und sozialen Medien aufgewachsen sind.

Diese Stimmung hilft derzeit der Konkurrenz. Vor allem der FPÖ, die das Spiel mit der Angst beherrscht und erfolgreich für ihre Zwecke nutzt, die Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielt, von Wahlsieg zu Wahlsieg eilt, mit den Stimmen der ehemaligen SPÖ-Wähler. Ein Gegenmittel haben die Genossen nicht parat. Mit zunehmender Law & Order Rhetorik versuchen sie die abwanderungswilligen Wähler zu halten. Vergeblich.

Michael Ludwigs gut einstündige Rede beim Parteitag vor ein paar Tagen offenbarte die Schwäche der Partei. Er kritisierte die Politik des politischen Gegners, versprach keine Koalition mit der FPÖ einzugehen, konnte aber kaum eigene Ansätze präsentieren, um dem politischen Trend entgegenzuhalten.

Als es um politische Impulse der Partei ging, zählte er mit der Dritten Piste am Flughafen, der Lobau-Autobahn unter dem Naturschutzgebiet Donau-Auen und dem internationalen Busbahnhof lediglich drei Infrastrukturprojekte auf. Drei Projekte, die jede Beteuerung der Partei zu mehr Klimaschutz, wie zuletzt durch EU-Spitzenkandidat Andreas Schieder, unglaubhaft machen.

Michael Ludwig bringt Genossen zum Schweigen

Damit von den Sitzen reißen konnte Ludwig kaum jemanden. Nachdem bei den ersten Projekten zumindest ein paar Genossen klatschten, blieb es beim dritten Projekt ganz still. Ludwig geriet ins Stocken, ihm blieb nur die Flucht in die Selbstironie: "Also, des war ein bisserl spärlich", kommentierte er resignierend. Zum Schluss sagte er noch: "Die SPÖ Wien ist eine Kampfmaschine." Ob als Witz oder ernst gemeint, wusste er wahrscheinlich selbst nicht.

"Es gibt wenig Willen zu Politikgestaltung", kritisiert der Politologe Ulrich Brand. Deutlich werde das vor allem beim Thema Digitalisierung. "Es wäre Aufgabe der SPÖ zu überlegen, wie die kommenden Veränderungen gestaltet werden könnten und nicht darauf zu warten, wie die kommenden Veränderungen durch Katastrophen, etwa einer weiteren Wirtschaftskrise, herbeigeführt werden." Brand ortet fehlenden Mut in der Partei: "Es ist feig, sich diesen Diskussionen nicht zu stellen." In den Anfängen des Roten Wien seien die Genossen noch eine Gestaltungsmacht gewesen, heute führen sie nur noch leere Smart-City-Diskurse.

Um zukunftsfit zu werden, müsste die Partei mit bisherigen Dogmen brechen. Etwa mit der Forderung einer 30-Stunden-Woche bei selbem Gehalt. Mehr Zeit für Familie und Freunde, mehr Freizeit, mehr Erholung für die Arbeitnehmer. "Die SPÖ muss aus dem Wachstumszwang raus", befindet Brand. "Sie stecken fest in ihrem Bild der traditionellen Verteilungslinke. Frei nach dem Motto: Hauptsache der Exportmotor läuft, Hauptsache die Wachstumsraten sind hoch. Hauptsache es wächst und alle kriegen immer mehr." Wie es zustande kommt, sei nebensächlich.

Tatsächlich beschloss die Partei die 30-Stunden-Woche in einem Leitantrag beim Bundesparteitag im Herbst. Seither war nichts mehr davon zu hören.

Doch auch vergangene Errungenschaften könnte die SPÖ in eine erfolgreiche Zukunft führen. Die steigenden Wohnungskosten in Städten können sich immer weniger Menschen leisten. Vor allem, wenn man aus dem Erwerbsleben ausscheidet. Wird die Pension für eine Wohnung reichen? Gibt es einen Ausweg aus der Altersarmut?

Als Hauptstadt der Sozialwohnungen könnte die Wiener SPÖ den Menschen diese Ängste nehmen. Was wäre notwendig, dass man bei Pensionsantritt Anspruch auf eine Gemeindewohnung hat, sofern das Geld für eine Miete nicht ausreicht?

Eine mutige Politik, wie vor 100 Jahren.