Zum Hauptinhalt springen

Roter Liebeskummer in Simmering

Von Matthias Winterer

Politik
Die Simmeringer Hauptstraße ist die Lebensader des Bezirks. Alles ist nach ihr ausgerichtet.
© Gregor Kuntscher

Nach Ibiza und Spesenskandal baute die FPÖ bei der Nationalratswahl einen Totalschaden. Doch im blauen Simmering holte sie sich nur eine Delle. Können sich die Genossen ihre alte Hochburg 2020 zurückholen? Ein Stimmungsbericht.


Verlassene leiden wie Hunde. Sie verlieren sich im Liebeskummer. Ertränken ihr Leid im Alkohol. Sie wollen die Trennung nicht wahrhaben. Versinken in Lethargie und Depression. Stalken. Kämpfen. Hat der Expartner dann jemanden Neuen, beginnt der Albtraum.

Simmering ist der Albtraum der SPÖ. Hier wurden ihre schlimmsten Verlustängste wahr. Nach langer Ehe war Schluss. Die Simmeringer suchten sich eine neue Liebe - die FPÖ. Seit vier Jahren sind sie nun liiert. 2020 will die SPÖ Simmering zurückerobern. Aber wollen die Simmeringer das auch?

Es ist kompliziert. Um das Verhältnis zwischen der SPÖ und Simmering zu verstehen, lohnt sich Vergangenheitsbewältigung. Über lange Jahre verstand man sich zunächst einmal blind. Simmering war der Prototyp einer roten Hochburg. Die Absolute war eine sichere Bank. Die Sozialdemokraten konnten sich auf ihre Wähler verlassen. Dafür bekamen sie Wohnungen und Arbeit. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Eine ergänzende Liaison über Jahre.

Der Bruch kam unerwartet. Zumindest für die Verlassenen. Die Wien-Wahl 2015 brachte ein politisches Novum. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt gewann die FPÖ die Mehrheit in einem Bezirk. Um läppische 401 Stimmen. Um ein Prozent. Nach 70 Jahren mussten die Sozialdemokraten den Sessel des Bezirksvorstehers für den blauen Paul Stadler räumen. Ausgerechnet hier. Wo aus jedem Gemeindebaufenster eine rote Fahne wehte. Der Schock saß tief unter den Bezirks-Genossen. Sie hatten das Ende nicht kommen sehen. Sie hatten nicht bemerkt, wie fremd man sich geworden war - die Simmeringer und die SPÖ.

Das neue Paar verstand sich prächtig. Die FPÖ legte auch nach der Wahl weiter zu. War Simmering nur die Vorhut? Ein Etappensieg auf dem Weg zum blauen Wien?

Keine "Sozis" in Simmering

Dann verbrachte Heinz-Christian Strache einen Abend auf Ibiza. Die FPÖ baute in ganz Wien einen Totalschaden. Doch in Simmering holte sie sich nur eine Delle. 20 Prozent der Simmeringer hielten den Freiheitlichen bei der Nationalratswahl Ende September die Stange. Trotz Ibiza. Trotz Spesenskandal. Und ohne Zugpferd Strache. Eine Ansage für die Wien-Wahl im kommenden Jahr. Denn da wird die Bezirksvertretung und nicht der Nationalrat gewählt. Und im Bezirk genießt Stadler hohes Ansehen. Noch schlimmer. Die enttäuschten FPÖ-Wähler kamen nicht zurück in den roten Schoß. Sie wählten in Scharen die ÖVP.

Wieso machen es die Simmeringer den Sozialdemokraten so schwer? Wieso sind sie so sauer auf die Genossen? Schließlich kümmerten sie sich über Jahrzehnte um ihre Anliegen. Bauten ihnen die U-Bahn vor die Nase. Versorgten sie mit günstigem Wohnraum. Gaben ihnen Arbeit. Was macht die SPÖ falsch in Simmering? Was die FPÖ richtig?

Morgennebel hängt über der Simmeringer Hauptstraße. Alois wartet auf die Straßenbahn. Es ist ein Ritual. Aufstehen, Anziehen, Frühstücken. Danach fährt er zu seiner Frau. Sie liegt drei Kilometer weiter auf dem Zentralfriedhof. Seit sie vor vier Jahren an Krebs starb, besucht er sie täglich. Das ist Routine. Mit ihr brechen würde er nie.

Früher war es für Alois auch Routine, am Wahlsonntag sein Kreuz bei der SPÖ zu machen. Mit dieser Routine hat er gebrochen. "Die FPÖ baut Scheiße, aber die SPÖ kann nicht einmal davon profitieren", sagt er. "Sie macht ihr schlechtestes Ergebnis seit Hainfeld und sagt, dass der Weg stimmt." Im niederösterreichischen Hainfeld gründete sich die Partei vor 130 Jahren. Alois weiß das. Er hat die Geschichte der Sozialdemokratie verinnerlicht. Er war bei den Roten Falken. Er war sogar Parteimitglied. Heute ist er enttäuscht von der Partei. "Ich sehe niemanden von der SPÖ in Simmering. Die Genossen hocken im Rathaus. Die sind völlig abgehoben. Nur noch Trottel wählen die SPÖ", sagt er und steigt in die 71er Bim.

Alois ist mit seiner Meinung nicht allein. Auch beim Würstelstand "Endstation" im Schatten des Bahnhofs Simmering wird über die "Sozis" gelästert. Die "Sozis", das sind die anderen. Die, die innerhalb des Gürtels wohnen. Die Simmeringer wollen keine "Sozis" mehr sein.

Sie fühlen sich benachteiligt, übergangen, vernachlässigt. Gegenüber dem Rest der Gesellschaft. Gegenüber dem Rest der Stadt.

Simmering ist kein Gewinnerbezirk. Als würde ihn Wien nur widerwillig sein Eigen nennen, trennt den Bezirk ein dicker Gürtel aus Gewerbeflächen und Autobahn von der Innenstadt. Eine Barriere - geografisch, optisch, emotional.

Der Bezirk hat seine Identität verloren. All die Orte, die Simmering ein Gesicht gaben, wurden geschleift oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
© Gregor Kuntscher

Simmering steht in keinem Reiseführer. Nach Simmering werden die Probleme ausgelagert. All das, was eine Stadt braucht, aber nicht haben will - die Kläranlage, das Kraftwerk, die Tierkörperverwertung, die Müllverbrennungsanlage, das Krematorium. In den Elften kommt man nur, wenn man hier wohnt, arbeitet - oder wenn man stirbt.

Keine Identität für Simmering

Die Einkommen sind niedrig, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Der klassische Flächenbezirk. 2326 Hektar, 46.962 Wohnungen, 103.000 Menschen. Schmucklos. Bescheiden. Funktional.

Hier gibt es keine Kunsthalle wie die Ankerbrotfabrik im benachbarten Favoriten. Kein neues Stadtviertel wie die Seestadt Aspern in der Donaustadt. Keine Begegnungszone wie die Mariahilfer Straße. Keine trendiges Grätzl wie den Yppenplatz in Ottakring. Keine Galerien, Szene-Cafés, Boutiquen. Obwohl in Simmering die Mieten so günstig sind wie sonst nirgends in der Stadt, kommen keine Studenten, Künstler, Bohème. Die Aufwertung lässt seit Jahren auf sich warten. Der Aufschwung bleibt aus.

Billige Mieten allein locken noch kein hippes Publikum. Simmering fehlt es an beliebten Altbauten. In keinem anderen Bezirk wurden weniger Häuser vor 1919 erbaut wie hier. Simmering hat auch keine Märkte, die den Boom oft anstoßen, wie am Brunnen- oder Karmelitermarkt. Nicht mehr. Der Simmeringer Markt wurde vom Einkaufszentrum (EKZ) zugrunde gerichtet. Seit den 1980er Jahren sperrten die Standler sukzessive zu. Heute steht der moderne Bau des Bildungszentrums dort, wo früher Wurst, Käse, Obst verkauft wurde.

All die Orte, die Simmering ein Gesicht gaben, wurden geschleift oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Doch es sind diese Orte, die Identität stiften, die ein Grätzl beleben. Früher gab es sie zuhauf.

In der berüchtigten Gemeindebausiedlung Hasenleiten gleich neben der "Endstation" wuchs Herbert "Schneckerl" Prohaska auf. Hier lebten die armen Leute, die Arbeiter. Doch sie waren stolz darauf, aus der Hasenleiten zu sein. Der Name war in ganz Wien ein Begriff.

Auch die Gasometer im Norden des Bezirks waren Denkmäler der Arbeiterschaft. Landmarks aus Backstein. Heute beherbergen sie ein austauschbares Entertainment- und Einkaufscenter. Ihre Revitalisierung in den 1990er Jahren gilt unter Stadtplanern als Beispiel, wie man es nicht machen soll.

Oder die "Haupt", wie der Simmeringer seine Hauptstraße nennt. Sie ist die Lebensader des Bezirks. Kern-Simmering hat die Charakteristik eines Straßendorfs. Alles ist auf die Hauptstraße ausgerichtet. Sie durchquert den gesamten Bezirk von Nordwest nach Südost. Auf ihr fährt die Straßen-, unter ihr die U-Bahn. Vor dem Bau der Flughafenautobahn Anfang der 1990er Jahre war sie die wichtigste Route in die Innenstadt. Als John F. Kennedy Nikita Chruschtschow 1961 in Wien traf, war das Erste, was sie von der Stadt sahen, Simmering. Ihr Tross rollte an den Gasthäusern, Ausstattern, Greißler- und Bäckereien vorbei.

Heute spiegelt sich die Autokolonne in den Auslagen von Diskontern, Billigketten, Nagelstudios. Vor einem Ramschladen stehen Plastikblumen und Trolleys. Gasthäuser sind beinahe zur Gänze verschwunden. Einen Fleischhacker sucht man vergebens.

Genauso wie die Identität des Bezirks. Obwohl sich ein Großteil der Arbeiter längst zu Dienstleistern gewandelt hat, geht Simmering noch als "Arbeiterbezirk" durch. Knapp die Hälfte der Bevölkerung hat eine Lehre oder eine berufsbildende mittlere Schule abgeschlossen. Doch die Hackler-Romantik ist verschwunden. Nicht einmal Ghetto kann man sich nennen. Das Image hat schon Favoriten für sich gepachtet. Bleibt nur die Rolle des unscheinbaren Verlierers.

Keinen Job für die Wähler

Und in der sehen sich viele Simmeringer. Schuld daran geben sie der SPÖ. Schließlich hat ihnen die einst das Blaue vom Himmel versprochen. Sie lockte die Wähler mit einer Wohnung im Gemeindebau und einem Job im Konsum. Den Konsum gibt es nicht mehr, der Gemeindebau ist voll. Als die SPÖ die Simmeringer nicht mehr mit Wohnraum und Arbeit versorgen konnte, begann die Beziehung zu bröckeln. "Ich bin zehn Jahre für die SPÖ gerannt. Ich habe Beiträge eingesammelt", sagt Helga. Die Pensionistin steht in der Eingangshalle des EKZ. "Und heute hat die Partei keine Wohnung für mein Enkerl mehr. Aber Ausländer leben genug im Gemeindebau."

Sind die Simmeringer neidisch auf die neuen Wiener? Hat sie die SPÖ zu sehr umgarnt? War es Eifersucht, die sie in die Arme der Freiheitlichen trieb? 28,2 Prozent der Simmeringer hatten 2018 keine österreichische Staatsbürgerschaft. Kein rasend hoher Wert. Ein Prozent unter dem Wien-Schnitt. Die größte Gruppe kommt aus Serbien, gefolgt von der Türkei, Polen, Kroatien und Bosnien. In anderen Bezirken ist der Ausländeranteil wesentlich höher, trotzdem kommt dort die FPÖ mit ihrer restriktiven Zuwanderungspolitik schlechter an.

"Mir sind die Ausländer wurscht. Ich kauf gerne beim Türken unten ein Brot", sagt etwa Andreas. Der Mittdreißiger ist arbeitslos. Seinen Mitbürgern aus dem Ausland ist er nichts neidisch. "Ohne die Kebab-Standeln würde die Simmeringer Hauptstraße leer stehen", sagt er. "Die Leute wählen die FPÖ, weil sie einen Grant auf die SPÖ haben." Marko gibt ihm recht. Der gebürtige Serbe ist vor dem Jugoslawien-Krieg Anfang der 1990er Jahre nach Wien geflohen. Er lebt in Kaiserebersdorf, dem südlichsten Teil von Simmering. "Ich wähle trotzdem Rot", sagt er. "Die Sozialdemokratie hat für mich die besten Antworten auf die Probleme der Zukunft."

Paul Stadler ist seit vier Jahren der Chef im Bezirk. Er ist Pragmatiker, kein Ideologe.
© Ursula Röck

Diese Antworten hat die SPÖ für viele Simmeringer verloren. Sie setzen ihre Hoffnungen in Paul Stadler. Der blaue Bezirksvorsteher ist Pragmatiker, kein Ideologe. Er schwingt keine Brandreden gegen Ausländer wie seine Vorgesetzten an der Spitze der Bundespartei. Auf die ist Stadler momentan überhaupt schlecht zu sprechen. "Wir rennen das ganze Jahr und arbeiten für die Partei und die zerstören alles mit ihrem Größenwahn", sagt er und spielt auf Straches Urlaubsvideo und den Spesenskandal an. Geht Stadler über die Simmeringer Hauptstraße, wird ihm die Schulter geklopft.

"Im September habe ich die ÖVP gewählt, aber im Bezirk werde ich wieder den Stadler wählen", sagt David. Der ist Mitte zwanzig und studiert Jus. "Der Paul ist leiwand." Die Verluste der FPÖ bei der Nationalratswahl wertet Stadler als Strafe für Ibiza und den Spesenskandal. Doch für Ibiza kann er nichts. Für die Wien-Wahl rechnet er wieder mit einer Mehrheit im Bezirk. Das sieht David genauso. "Die Bundes-FPÖ ist verkommen. Die Bezirks-FPÖ in Ordnung." Und die SPÖ?

Die hat es für viele verspielt. Nach 70 Jahren Beziehung übersieht man schon mal die Bedürfnisse des Partners. "Wir haben eine Vielzahl an Fehlern gemacht. Wir hatten ein Verkehrsproblem. Wir haben für die Gärtner in der Simmeringer Haide zu wenig getan. Wir hatten Probleme im Gemeindebau. Dafür wurden wir abgestraft, keine Frage", zeigt sich Thomas Steinhart einsichtig. Der 46-Jährige ist Stadlers zweiter Stellvertreter. Er ist der letzte Rest der SPÖ im Amtshaus am Enkplatz. Nach der ersten Trauerphase zeigt sich die SPÖ also selbstreflexiv. Ja, man habe auch Fehler gemacht. So richtig will man sich die Niederlage von 2015 aber nicht eingestehen. "Mit über vierzig Prozent hatten wir ein starkes Ergebnis", sagt Steinhart. "Leider hatte die FPÖ um 401 Stimmen mehr."

Keine Bank für die Oma

"Die Roten haben nichts mehr für die Simmeringer getan", lässt sich auch Stadler zu einer Wahl-Analyse hinreißen. "Sie hatten über Jahrzehnte die Absolute. Sie mussten mit niemanden mehr reden. Sie haben einfach bestimmt. Haben ihre eigenen Vereine mit Geld versorgt und die Bürger vergessen", sagt Stadler. Im Sommer sei eine alte Dame zu ihm ins Büro gekommen. Sie hätte sich ein Bankerl zwischen U-Bahn-Station und ihrer Wohnung zum Rasten gewünscht. "Jetzt steht dort ein Bankerl", sagt Stadler. "So gewinnt man Wahlen."

Auf einem Bankerl am Enkplatz sitzen drei Männer und trinken drei Frühstücksbier. Blech versteht sich. Ihre Meinung ist einhellig. Simmering ist Dreck. Der Mistkübel von Wien. Die Diffamierungen sprudeln. Die Hasstiraden überbieten sich gegenseitig. Thomas Bernhard würde erblassen. Helmut Qualtinger als Nestbeschmutzer beschimpft werden. Doch der Simmeringer darf das. Schließlich muss er hier leben. In dieser "Ausgeburt der Hölle". In dieser "Hure". In diesem gottverdammten elften Hieb.

Allzu buchstäblich darf man die drei Herren wohl nicht nehmen. In ihren Ausschweifungen schwingt Humor mit. Tiefschwarzer Humor. Doch bei aller Ironie ist der Kern ihrer Kritik ernst.

Sie fühlen sich im Stich gelassen. 2015 zogen sie einen Schlussstrich. Sie präsentierten der SPÖ die Rechnung. Suchten sich jemanden Neuen. Ein Albtraum für die Genossen. 2020 wollen sie aufwachen und kämpfen. Für ihre alte Liebe Simmering.