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"Das Kindeswohl geht vor"

Von Bettina Figl

Politik
Timi (links im Bild, mit oranger Haube) und Schülerinnen und Schüler der 2A bei ihrer Demo in der Wiener Innenstadt.
© B. Figl

In drei Fällen sollen Kinder, die in Österreich geboren wurden, mit ihrer Familie in die Ukraine abgeschoben werden.


Timi kann vorerst durchatmen. Ende letzter Woche sah es noch danach aus, als müssten der Siebenjährige und seine ukrainische Familie sofort das Land verlassen. Doch eine Abschiebung liege derzeit "in weiter Ferne", so Anwalt Manfred Schiffner zur "Wiener Zeitung".

Ob die Familie des Schülers, der in Wien geboren wurde, langfristig in Österreich bleiben darf, ist jedoch weiter ungewiss. Damit ist die Familie nicht alleine. "Viele Familien aus Georgien oder der Mongolei, die eigentlich Vorzeigebeispiele für gelungene Integration sind, wurden in den vergangenen Jahren abgeschoben", sagt Ruxandra Staicu von der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung.

"Integration": Im aktuellen Regierungsprogramm ist dem politischen Schlagwort ein fünfseitiges Kapitel gewidmet. Das Ziel von Integration ist demnach "die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben", die alle Lebensbereiche betreffe: "Von Bildung, Ausbildung, Erwerb der deutschen Sprache, Erfolg am Arbeitsmarkt bis hin zur Beteiligung am sozialen und kulturellen Leben und der Vermeidung von Parallelgesellschaften."

In den oben erwähnten Punkten haben drei gut integrierte ukrainische Familien alles richtig gemacht - das bedeutet aber nicht automatisch, dass sie hier bleiben dürfen.

Frau A., die auf Wunsch des Anwalts anonym bleiben soll, war zum Studium nach Wien gekommen, wo sie zwei Kinder zur Welt brachte. Nachdem sie ihr Studium abgebrochen hatte, verlor sie ihren Aufenthaltstitel. Der Vater kehrte in die Ukraine zurück, nun lebt die Frau mit ihrer Mutter und den beiden Kindern, die heute sechs und sieben Jahre alt sind, in Wien. Die Entscheidung der Behörden sei noch ausständig, aber die Chancen auf humanitäres Bleiberecht stehen gut, erklärt Wilfried Embacher, Anwalt der Familie und Experte für Asylrecht: "Die Familie lebt seit mehr als fünf Jahren in Österreich, ist gut integriert, führt ein aufrechtes Familienleben, hat sich strafrechtlich nichts zuschulden kommen lassen und bezieht keine Sozialleistungen, zuletzt nicht einmal Familienbeihilfe."

Integration kein Asylgrund

Gute Integration ist kein Asylgrund. Menschlich betrachtet ist es schwieriger.

Lebt jemand bereits mehrere Jahre in Österreich, besteht die Chance auf humanitäres Bleiberecht - doch laut einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs aus dem Vorjahr stellt die Aufenthaltsdauer zwar "nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien dar", hat jedoch fünf Jahre Aufenthaltsdauer als Maßstab herangezogen. "Entscheidungen beharren eisern darauf, unter fünf Jahren besteht de facto keine Chance. Das ist falsch, denn dadurch kommt die notwendige individuelle Prüfung oft zu kurz", betont auch Rechtsberaterin Staicu, denn die Bindung zu Österreich stehe nicht unbedingt nur in Zusammenhang mit der Zeitspanne, die man bereits hier lebt.

Außerdem handle es sich hier - wie im Fall Timi - um ein "Schülerverfahren", so Anwalt Embacher, in dem "das Kindeswohl laut UN-Kinderrechtskonvention vorrangig zu beachten" sei. Laut dem Anwalt müsste man bei Kindern die Jahre, die sie sich im Land aufhalten, in Relation zum Lebensalter sehen. "Man geht zwar davon aus, dass Kinder bis zum zwölften Lebensjahr sehr anpassungsfähig sind, doch diese Kinder haben bereits Freundschaften geknüpft, und diese aufzugeben, ist nicht so leicht", so Embacher, und: "Das wird von den Behörden noch zu wenig berücksichtigt.

Familie Metenka, eine weitere ukrainische Familie, die um ihren Verbleib in Österreich bangt, lebt in Eberschwang in Oberösterreich. Wie im Fall Timi war die Mutter aufgrund einer schwierigen Schwangerschaft nach Österreich gekommen. Im AKH Wien brachte sie einen Sohn mit Behinderung zu Welt. Vladuslav ist heute vier Jahre alt, gesund, und besucht den Pfarrkindergarten in Eberschwang. Seine zwölfjährige Schwester Julia geht im selben Ort zur Mittelschule.

Zwei Asylanträge der Familie wurden bereits abgelehnt. "Im November haben wir jeden Tag damit gerechnet, dass Julia abgeholt wird", sagt Direktor Joachim Kana, der die Schülerin als "sehr intelligent und gut integriert" beschreibt: Sie ist Mitglied im Turnverein, singt im kirchlichen Kinderchor und nimmt Geigenunterricht. Ihre Großmutter lebt seit 15 Jahren in Graz.

Die Familie stammt aus Iwano-Frankiwsk (Stanislau) im Westen der Ukraine. Im Asylverfahren gab Wladimir Metenka an, er sei ein Staatsfeind - "das konnte er aber nicht glaubhaft vermitteln", so Benno Wageneder, der ehemalige Anwalt der Familie. Heute werde von den Behörden "alles möglichst nachteilig ausgelegt, nichts mehr geglaubt", sagt Asylexperte Embacher.

Solidarität in Eberschwang

Die Dorfgemeinde setzt sich für den Verbleib der Familie ein, in einem Brief des Kindergartens ist zu lesen: "Es ist nicht nur die Abschiebung einer gut integrierten Familie, die aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar ist, sondern vor allem auch die Tatsache, dass die medizinische Versorgung, die (der vierjährige, Anm.) Vladuslav ständig braucht, dort einfach nicht gegeben ist. Unter solchen Bedingungen ist kein sicheres, menschenwürdiges Leben für Vladuslav möglich."

Die Gemeinde Eberschwang bietet sich in einem Schreiben als Arbeitgeber an: "Ein Vertragsverhältnis konnte leider noch nicht gemacht werden, da wir das als Gemeinde gesetzlich nicht dürfen, es sei denn sie bekommen eine Aufenthaltsgenehmigung (...) über eine solche würden wir uns sehr freuen, da sich Familie Metenka mit Kind und Kegel wirklich gut eingelebt hat und sie auch am sozialen Leben in unserer Gemeinde teilnimmt."

Auch im Fall Timi ist die Solidarität groß: Vergangene Woche demonstrierten mehr als hundert Schüler der Volksschule Neubau vor dem Bundeskanzleramt, die Kinder hielten Plakate in die Luft und der Sprechchor "Timi muss bleiben" war so laut, dass sich die Fiaker-Pferde gestört fühlten und ein Polizeibeamter die versammelten Kinder zur Ruhe mahnen musste.

Doch wer darf hier bleiben, wenn nicht eine Vorzeigefamilie wie jene von Timi? Der Vater ist mit einem Ein-Personen-Unternehmen in der Baubranche tätig, eine geregelte Zuwanderung mit Rot-Weiß-Rot-Karte stellt mit 100.000 Euro erforderlichem Investitionskapital jedoch eine große Hürde dar. Timis Mutter hat eine Wirtschaftsausbildung, würde aber gerne in der Pflege arbeiten. Die Familie lebt in einer Genossenschaftswohnung, zahlt Steuern, bezieht keine Sozialgelder und geht in die Kirche.

2012 war Timis Mutter Tetiana Nynych aufgrund von Komplikationen in der Schwangerschaft nach Wien gekommen, wo sie Timi zur Welt brachte. In Lwiw (Lemberg) in der Westukraine hatten die Ärzte ihr und ihrem ungeborenen Kind keine Überlebenschance gegeben. Fast drei Jahre später, inzwischen war in der Ukraine Krieg ausgebrochen, folgten Timis Vater und der ältere Bruder als Deserteure nach Österreich.

Die Ukraine gilt als sicher

Die Konflikte in der Ostukraine dauern seit 2014 an. Der Krieg im Donbass ist von Lemberg 1000 Kilometer entfernt, und die Ukraine gilt seit einem Beschluss der türkis-blauen Regierung aus 2018 (unter dem ehemaligen Innenminister Herbert Kickl, FPÖ) als sicheres Herkunftsland.

Ende 2014 hat die Familie einen Asylantrag gestellt, der 2019 in beiden Instanzen abgelehnt wurde. Im November des Vorjahres wurde ein weiterer Antrag nach §56 des Asylgesetzes gestellt, womit "Aufenthalt in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen" erwirkt werden könnte. Die Entscheidung ist noch offen.

Da die Familie ursprünglich einer freiwilligen Rückkehr* zugestimmt hat, hätte sie bereits am Freitag vergangener Woche ausreisen müssen. Zu Einzelfällen geben die Behörden ungern Auskunft, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) betont aber die Rechtskonformität: "Das BFA hat gerichtliche Bescheide zu vollziehen", so BFA-Mediensprecher Christoph Pölzl.

Die Mutter betont, sie sei bezüglich der freiwilligen Ausreise schlecht beraten worden. Man habe ihr empfohlen, in die Ukraine auszureisen und von dort aus einen neuen Antrag zu stellen. "Die Behörden drängen teilweise massiv zur freiwilligen Ausreise, als wäre es die einzige Alternative", so Rechtsanwalt Embacher.

Anwalt Manfred Schiffner, der den Fall vor zwei Wochen übernommen hat, möchte diesen neu aufrollen: "Das ist ein extremer Härtefall und eine Abschiebung wäre eine Verletzung der Menschenrechte. Für mich ist völlig unverständlich, warum keine Beschwerde bei den Höchstgerichten (Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof) eingereicht wurde."

Wird sich nun, da die Grünen Teil der Regierung sind, am Entscheid in Fällen wie diesen etwas ändern? "Die Gesprächsbasis ist eine andere. Wir müssen das nutzen, um den Koalitionspartner mit diesen offenen Themen zu konfrontieren. Wenn ein Kind hier geboren ist, muss es hier bleiben dürfen", sagt Markus Reiter, Grüner Bezirksvorsteher im 7. Bezirk. "Es ist eine Missachtung der Kinderrechte, ein Kind wie Timi, das hier geboren ist und keine andere Heimat als Österreich kennt, zu entwurzeln und zu traumatisieren. Noch dazu, wo die ganze Familie sich so gut hier eingelebt hat", so die Grüne Sozialsprecherin Ursula Berner. Der Anwalt ist zuversichtlich, dass Timis Familie humanitäres Bleiberecht bekommen wird, und: "Das Verfahren geht erst jetzt richtig los.

Die Asylanträge von ukrainischen Staatsbürgern sind laut Innenministerium seit 2017 rückläufig: 2017 waren es 490 Anträge, 2018 nur noch 261.

*Bei einer freiwilligen Rückkehr werden die Kosten für die Heimreise übernommen sowie in der Regel eine finanzielle Starthilfe von max. 500 Euro ausbezahlt.