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"Daseinsvorsorge ist die Basis für Lebensqualität"

Von Christian Rösner

Politik

Gerade in Zeiten der Krise wird die Bedeutung der öffentlichen Hand besonders deutlich, sagt Wiens Daseinsvorsorge-Beauftragte Renate Brauner.


Warum es so wichtig ist, dass sich die wesentlichen Bereiche der Daseinsvorsorge in der öffentlichen Hand befinden, erklärt die ehemalige Wiener Vizebürgermeisterin und Finanzstadträtin Renate Brauner in einem Gespräch mit der "Wiener Zeitung". In ihrer neuen Funktion als Bevollmächtigte der Stadt Wien für Daseinsvorsorge und Kommunalwirtschaft hat sie zusammen mit Bernhard Müller das vor kurzem erschienene Buch "Wege zur Wohlfahrtsstadt - Wirtschafts- und sozialpolitische Überlegungen für eine moderne Kommunalpolitik" verfasst und die Studie "Die Qualität der Daseinsvorsorge in Österreichs Städten und deren Auswirkungen auf die Lebensumstände im Europavergleich" in Auftrag gegeben.

"Wiener Zeitung": Kann man die Studie als wissenschaftliches Gegenstück zum jährlich erscheinenden Mercer-Ranking zur Lebensqualität in Städten sehen, an dem immer wieder kritisiert wird, dass für dieses angeblich nur reiche Manager befragt werden?Renate Brauner: Erstens stimmt das mit der Mercer Studie nicht und abgesehen davon: Ob die U-Bahn pünktlich ist oder nicht, ob ich Hochquellenwasser aus der Wasserleitung trinken kann, interessiert den reichen Manager genauso wie jeden anderen Menschen, der in unserer Stadt lebt. Und wie auch in der Studie erwähnt wird, gibt es ja nicht nur die Mercer-Studie, wo wir immer gut abschneiden, wir sind etwa auch bei der UN-Habitat immer ganz vorne, bei den Smart-City-Indizes usw. Aber ja, die Studie hat einen speziellen Aspekt herausgearbeitet und das ist die hochqualitative Daseinsvorsorge - und das viel detailreicher als Mercer.

Im Vergleich stehen laut Studie Österreichs Städte in Sachen Daseinsvorsorge relativ gut da. Auffallend ist aber, dass etwa der Anteil an privaten Kindergärten in Wien überdurchschnittlich hoch ist - ist das nicht ein schlechtes Zeugnis für den "Daseinsvorsorge-Musterschüler" Wien?

Nein, und das steht auch in der Studie, dass der Privatanteil zu relativieren ist, weil die meisten sogenannten Privatanbieter gemeinnützig orientiert sind. Abgesehen davon sorgt die Stadt dafür, dass sie alle gratis sind.

Wäre es aus Ihrer Sicht erstrebenswert, dass ausnahmslos alles, was mit Daseinsvorsorge zu tun hat, in öffentlicher Hand ist?

Privatwirtschaft und öffentliche Wirtschaft ist kein Widerspruch - die brauchen einander. Dafür kämpfe ich auch. Es gibt viele gut funktionierende PPP-Modelle. Das muss aber immer vom Inhalt her definiert werden. Dass die Privaten alles besser und günstiger machen, hat sich in vielen Städten als Illusion herausgestellt. Aber wenn die öffentliche Hand die Regeln aufstellen kann und in manchen ausgewählten Bereichen mit Privaten zusammenarbeitet, dann funktioniert das gut. Das kann man ja auch in Wien beim öffentlichen Verkehr sehen, wo die Wiener Linien private Leistungen zukaufen, siehe etwa die Buslinien am Stadtrand. Es gibt auch exzellente Kooperationen mit Privatspitälern, die sich gerade in der Krise hervorragend bewährt haben, um ein weiteres Beispiel aus einem anderen Bereich zu nennen.

Wien hat den höchsten Anteil an Gemeindewohnungen in Europa. In diesem Bereich haben es Private schwerer als in anderen Städten.

Ja, wir haben 220.000 Gemeindewohnungen. Wir haben aber auch 200.000 Genossenschaftswohnungen - da gibt es auch öffentliche und gemeinnützige, die nicht im Eigentum der Kommune sind, sich aber wohlfahrtsorientierten Regeln unterwerfen und eine Zusammenarbeit möglich ist. Das ermöglicht vergleichsweise günstige Mieten. Gerade in diesen Lebensbereichen ist öffentlicher Einfluss wichtig, weil Wohnen ein Grundrecht ist. Mittlerweile gibt es auch entsprechende politische Beschlüsse im EU-Parlament, auf die wir sehr stolz sind.

Wie definieren Sie also Daseinsvorsorge?

Das ist eindeutig eine politische Definition. Wien definiert sie sicher weiter als andere Städte, die sich nur auf Kernbereiche wie, Wasser, Müll und Gesundheit konzentrieren. Genauso ist es dann auch mit der Frage: Was mache ich selber und was überlasse ich den anderen. Das Wichtigste dabei ist, dass immer das Gemeinwohl im Vordergrund steht und nicht das Geldmachen - das ist die entscheidende Frage. Das allgemeine Interesse und die Effizienz müssen da Priorität haben. Ein Wiener Verkehrsnetz mit 20 Subunternehmern würde diesem Anspruch nicht gerecht werden können - abgesehen davon, dass man für so etwas erst recht wieder eine öffentliche Einrichtung benötigt, die das alles koordiniert. Das würde kaum effizienter oder billiger sein.

Das heißt, Sie sehen den Wettbewerb nicht als kostenregulierendes Element in der Daseinsvorsorge?

Das ist ein ausschließlich ideologisch geprägtes Argument, das in dieser Form einfach nicht stimmt und empirisch nachzuweisen ist. Deswegen auch die eingangs angesprochene Rekommunalisierungsstudie. Zum Beispiel wurden die U-Bahn in London sowie die Wasserversorgung in Paris und in Budapest rekommunalisiert, weil mit den Privaten die Infrastruktur vernachlässigt wurde, die Kosten explodiert sind und die Qualität gesunken ist. Bei diesen Ländern kann man wohl nicht behaupten, dass hier nur die Linken die Rekommunalisierung vorangetrieben haben. Und abgesehen davon: Ob privat oder öffentlich - die politische Verantwortung liegt sowieso immer bei der Kommune, wozu sie also aus der Hand geben? Wenn der Preis für das Wasser steigt und die Infrastruktur immer schlechter wird, rufen die Bürger nicht bei einem Großkonzern an, sondern beim Bürgermeister. Gerade in Zeiten der Krise brauchen die Menschen Versorgungssicherheit. Und nach der Pandemie erst recht - denn die Wirtschaftskrise wird noch dauern. Wer soll die ganzen Nachhaltigkeitsthemen lösen, wer soll denn ein europaweites, gut funktionierendes Eisenbahnnetz aufbauen? Das kann nur die akkordierte öffentliche Hand machen.

Mit Steuergeldern und Schulden.

Auch hier muss man endlich von dem Stehsatz wegkommen: Steuern sind pfui, Fremdmittel aufnehmen ist pfui. Auch große Investitionen in der Privatwirtschaft werden fremdfinanziert. Laut Berechnungen des Momentum-Institutes sind die Schulden, die der Bund jetzt macht, ein gutes Geschäft mit der derzeitig günstigen Zinssituation. Was in der österreichischen Diskussion komplett untergeht, ist dass etwa die öffentliche Hand in Deutschland laut Ergebnissen eines Forschungsprojektes des Instituts der deutschen Wirtschaft und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung in den vergangenen 20 Jahren die eigenen Investitionen massiv vernachlässigt hat. 450 Milliarden Euro wären etwa notwendig, um Erfordernisse in den Bereichen Bildung, Verkehr, Kommunikationsnetze und Dekarbonisierung abzudecken. Da das mit den Haushalten nicht zu finanzieren ist, sollte eine Kreditaufnahme im Umfang der Nettoinvestitionen erlaubt sein. Das hat die deutsche Wirtschaft und der Deutsche Gewerkschaftsbund vorgeschlagen - und zwar schon vor Corona. Das ist auch in dem Buch zu finden. Das ist das, was Wien immer getan hat: Wenn Fremdmittel aufgenommen werden, dann nie, um sie in den laufenden Betrieb zu stecken, sondern immer nur für besondere Zusatzinvestitionen.

Also ist öffentlich grundsätzlich besser als privat?

Auch das stimmt so nicht - natürlich muss penibel auf Kosten und Effizienz geachtet werden. Geschieht das nicht, gibt es genauso Probleme. Und es gibt noch einen Punkt, den man nicht außer Acht lassen darf: Was ist denn der Grund dafür, dass sich so viele Betriebe in Wien angesiedelt haben? Der Grund ist, dass die Infrastruktur bei uns bestens funktioniert: Die Energieversorgung, das Gesundheitssystem, die Ausbildungsmöglichkeiten, der öffentliche Verkehr, die Lebensqualität ist hoch, die Sicherheit der Bürger gewährleistet. Die Daseinsvorsorge ist daher auch eine immens wichtige Standortfrage. Und nur als Beispiel: In welchem privaten Energieunternehmen würden sich während einer Pandemie die Mitarbeiter freiwillig wochenlang im Kraftwerk einsperren, nur um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten? Die Wien Energie hat das gemacht. Und die Selbstverständlichkeit, dass die Öffis fahren, egal ob es eine Pandemie gibt oder einen schrecklichen Terroranschlag, ist keine Selbstverständlichkeit.

Aber viele Betriebsansiedelungen und eine hohe Lebensqualität habe ich in der Schweiz genauso und verdiene obendrein noch viel mehr.

Ja, das stimmt natürlich - allerdings bezahlen sie dann in Zürich rund 2.000 Euro für eine Mietwohnung und vielleicht noch einmal so viel für die Kinderbetreuung. Das war im Übrigen auch mit ein Grund, die aktuelle Studie zu beauftragen: Genau anzuschauen, wie viel man für Dinge woanders bezahlt, die in Wien weniger kosten bzw. sogar gratis sind und was dann am Ende im Geldbörserl für die schönen Dinge im Leben übrig bleibt. Denn das macht die Lebensqualität aus.

Zur Person~