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Wien und Bund - eine pandemische Beziehung

Von Matthias Winterer

Politik

Es ist kompliziert: Das Verhältnis zwischen Wien und Bund oszilliert zwischen offenem Konflikt und bemühter Professionalität.


Die Krise verbindet. Die Krise schweißt zusammen. Die Krise lehrt Solidarität. So verlockend die Mantras der Optimisten auch klingen, die österreichische Innenpolitik straft sie alle Lügen. Auch im Angesicht der Katastrophe ist sie sich uneinig. In allen Konstellationen wird gehachelt. Regierung mit Opposition. Opposition mit Opposition. Regierung mit Regierung. Scharmützel ziehen sich wie ein roter Faden durch die Krise. Sie sind die innenpolitische Konstante der Pandemie.

Zwei Kontrahenten stechen dabei besonders hervor. Stadt und Land. Wien und Bund. SPÖ Wien und Bundes-ÖVP. Sie hatten schon immer ein schwieriges Verhältnis. Seit dem Ausbruch der Pandemie ist es kompliziert. Erst folgte ein Streit dem nächsten. Nun machen beide Seiten gute Miene zum bösen Spiel. Denn natürlich liegen die Parteien auch beim Thema Pandemiebekämpfung weit auseinander. Wien geht dabei oft eigene Wege. Zum Leidwesen der Regierung. Doch beginnen wir am Beginn einer pandemischen Beziehung.

Als das Coronavirus Ende Februar 2020 in Österreich ankommt, herrscht Schockstarre. Zumindest im ewigen Polit-Hickhack. Alle sind sich einig - die Kurve muss abgeflacht werden. Im nationalen Schulterschluss verschreiben die Parteien dem Land einen harten Lockdown. Ganz Österreich sperrt zu. Die Bewohner horten Klopapier und hocken daheim. Rausgehen dürfen sie nur zum Arbeiten und um sich die Füße zu vertreten. Die Wienerinnen und Wiener wollen in den Park. Und stehen vor verriegelten Toren. Denn die vom Bund verwalteten Parks - der Schönbrunner Schlosspark, der Belvederegarten, der Augarten, der Volks- und Burggarten - bleiben im Lockdown zu. Damit ist auch der kurze Konsens zwischen Wien und Bund dahin. Die Stadtregierung reagiert verständnislos. Allen voran Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ).

Schlag und Gegenschlag

Er wirft der Regierung Wien-Bashing vor. Gibt launische Interviews - und sich demonstrativ gelassen. Er ist die Wiener Antithese zur aufgeregten Regierungsspitze. Schnell wird Hacker auch außerhalb der Hauptstadt einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Ist in Österreich Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) das Gesicht der Krise, ist es in Wien Hacker.

Hacker pariert von nun an stellvertretend für seine Partei die Schläge der Bundesregierung, die vor allem von der türkisen Flanke kommen. Und teilt natürlich selbst aus. Während Anschober das Krisenmanagement Wiens lobt, macht sich Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) in diversen Pressekonferenzen "Sorgen" über die steigenden Infektionszahlen in der Stadt. Zwischen den Zeilen zeichnet die ÖVP ein dunkles Bild der Hauptstadt: ein unhygienischer Ballungsraum, ein Virenherd, eine Gefahr für Österreich. Das Narrativ fruchtet. Die Wiener sind nicht mehr gern gesehen in ihren Wochenendhäusern am Land. In Kritzendorf in der Stadtgemeinde Klosterneuburg dreht die Gemeindeverwaltung den Zweitwohnsitzlern sogar den Trinkwasserhahn zu. Doch auch die Wiener Stadtregierung ist wenig zimperlich. Nehammer braucht nicht lange auf die Retourkutsche warten. "Der macht sich Nüsse Sorgen um Wien. Wenn er seine Statistik ordentlich lesen würde, dann würde er sehen, dass im Vergleich der Landeshauptstädte Wien an drittletzter Stelle ist", richtete ihm Hacker über die Medien aus.

In dieser Tonalität geht es weiter. Die Schlachtfelder werden vielfältiger. Die Frequenz der Anfeindungen höher. Nehammer kritisiert die Wiener Contact-Tracing-Rate und bietet herablassend Hilfe an, Hacker lehnt ab und macht sich wiederum über die "Flex des Bundeskanzlers" lustig, dieser (Sebastian Kurz, ÖVP) fordert Wien zu "weiteren notwendigen Schritten" in der Corona-Bekämpfung auf, Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) ortete ein "Zuviel der Panikmache" bei der Bundesregierung, Hacker eine politische Färbung der Corona-Ampel, Nehammer in Wien "Luft nach oben". Schließlich platzt Ludwig der Kragen. Er fordert einen Ordnungsruf von Kurz. Das Niveau in der Debatte sinkt, je näher die Wien-Wahl rückt.

Denn der Streit hat natürlich System. Die Corona-Pandemie überschattet die Wahl am 11. Oktober. Im Wahlkampf ist sie das einzig relevante Thema. Die FPÖ ist der SPÖ - nach den Ereignissen auf Ibiza und ihrem politischen Nachspiel - als Gegner weggebrochen. Dafür ist die ÖVP an ihre Stelle getreten und zum ernst zu nehmenden Konkurrenten erwachsen. Die wirtschaftsliberale Bundesregierung ist das ideale Feindbild für die Sozialdemokraten. Umgekehrt genauso. Die ÖVP stilisiert Wien seit jeher als soziale Hängematte. Beide Parteien lassen keine Gelegenheit aus, der anderen Inkompetenz in Sachen Pandemiebekämpfung zu unterstellen. Nur die Grünen müssen beim fröhlichen Bashing pausieren. Sie sitzen in beiden Regierungen. Noch, denn nach der Wien-Wahl geht die siegreiche Wiener SPÖ mit den Neos eine Koalition ein.

Eigentlich wäre jetzt die Bahn frei für die völlige Eskalation. Doch jetzt wird sie nicht mehr gebraucht. Nach der Wahl kehrt Ruhe ein. Wien und der Bund bemühen sich um eine gemeinsame Kommunikation. Fast scheint es so, als würden sie an einem Strang ziehen. Ludwig taucht sogar auf Pressekonferenzen mit Kurz auf. Gemeinsam verkünden sie Maßnahmen. "Doch bei allem Bemühen ist das tief verankerte Misstrauen fast körperlich spürbar", sagt der Politologe Peter Filzmaier gegenüber der "Wiener Zeitung". "Die Parteien haben Angst, der jeweils andere könnte den Auftritt für eine politische Inszenierung nutzen oder Informationen vorab exklusiv an Medien weitergeben." Beide Seiten haben erkannt, dass die Pandemie nur gemeinsam überwunden werden kann. Sie müssen mit einer Zunge sprechen, um die Bevölkerung nach über einem Jahr der Pandemie noch motivieren zu können. Doch die gegenseitige Skepsis bleibt. Das zerrüttete Verhältnis zwischen Stadt und Bund kann auch die Corona-Krise nicht zur Gänze glätten.

Es oszilliert zwischen bemühter Professionalität und hartem Widerspruch. "Im besten Fall ist es ein Zuspielen des Balles", sagt Filzmaier. Etwa bei der Impfung, wo der Bund die Organisation an die Länder abgegeben hat, die wiederum konkrete Vorgaben und mehr Impfdosen vom Bund fordern. "Im schlechtesten Fall ist es ein offener Konflikt." Etwa bei der Debatte um die Bundesgärten.

Der Wiener Protest gegen geschlossene Parks auf eigenem Stadtgebiet war ein Fingerzeig. Ein erster Warnschuss, der zeigen sollte: Wien wird der Regierung nicht schweigend hinterherdackeln. Wien wird Verordnungen nicht kommentarlos umsetzen. Die Stadt hat ihren eigenen Kopf. Und den setzte sie auch durch. Immer wieder verließ Wien im Verlauf der Pandemie den Weg des Bundes. Und fuhr damit gar nicht schlecht. Der Wiener Umgang mit der Krise unterscheidet sich von jenem der Bundesregierung auf den ersten Blick nur in Nuancen. Doch es sind diese Nuancen, die der Stadtregierung eine andere Sicht auf die Pandemie verschaffen, die wiederum andere Lösungswege aufmacht.

Besonnene und Scharfmacher

Hackers unaufgeregtes Auftreten ist so eine Nuance. Im Gegensatz zu Anschober und Kurz schürte er keine Angst. Natürlich ist es leichter, den Besonnenen zu geben, wenn es den Scharfmacher bereits gibt. Hacker kommen Sätze wie: "Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist", nicht über die Lippen. Ganz im Gegenteil. Am Höhepunkt des ersten Lockdowns im März des Vorjahres ließ er sich zu der Aussage hinreißen, dass die an Hysterie grenzende Angst vieler Ärzte vor Ansteckungen unberechtigt und inakzeptabel sei - und erntete massive Kritik. Tatsächlich spaziert Hacker auf dem schmalen Grat zwischen Verharmlosung und kühlem Kopf durch die Pandemie.

"Mit Erfolg", wie Hans-Peter Hutter findet. Der Public-Health-Experte der MedUni Wien bescheinigt der Stadtregierung gutes Krisenmanagement. Ihre Ruhe ermögliche einen breiteren Blick auf die Krise. "Es werden auch andere Aspekte der öffentlichen Gesundheit gesehen, wie etwa psychische oder soziale Bedrohungen", sagt Hutter. "Ohne dabei die Corona-Risiken aus den Augen zu verlieren."

So sperrte Wien nicht voreilig Parks zu. Die Stadt war das erste Bundesland, das im Sommer einen Leitfaden für die kontrollierte Öffnung der Bäder vorlegte. "Das Konzept wurde vielfach kopiert und sogar ins Englische übersetzt", sagt Hutter. Die Wiener Kulturschaffenden seien auf die Stadtregierung nicht schlecht zu sprechen, im Gegensatz zur Bundesregierung, von der sie sich vernachlässigt fühlen. Nach dem Erfolg des Bäderleitfadens gab Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) einen Kulturleitfaden bei Experten der MedUni in Auftrag. Er zeigt vor, wie Kellertheater, Museen, Kinos trotz Pandemie öffnen können. Andere Ideen - wie ein sich wiederholender kurzer Lockdown an Wochenenden oder die Bereitstellung öffentlicher Flächen für Wirte ohne Schanigarten - wurden bisher nicht umgesetzt. "Sie zeigen aber, dass die Stadt willens ist, nach Lösungen zu suchen, wie sie anders mit der Pandemie umgehen kann", sagt Hutter.

Auch in der Sache selbst - also in der Bemühung, das Virus einzudämmen - prescht Wien immer wieder vor. Als die Bundesregierung im August 2020 eine Reisewarnung für Kroatien aussprach, brachen tausende Österreicher ihren Urlaub ab. Ludwig und Hacker ließen vor dem Ernst-Happel-Stadion eine kostenlose Teststraße für Heimkehrer aufbauen. Binnen Stunden bildeten sich Schlangen. Schon Monate vor den bundesweiten Massentests im Dezember und Jänner bot die Stadt kostenlose Tests für alle Wienerinnen und Wiener an. Seit einer Woche stehen mit der Aktion "Alles gurgelt!" - einer Kooperation zwischen Stadt und Wiener Wirtschaftskammer - sogar kostenlose PCR-Tests zur Verfügung. "Die Stadt stellte schon früh ein breites und niederschwelliges Testangebot zur Verfügung", sagt der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien. "Viele Arztpraxen in Österreich sind nicht auf Infektionskrankheiten ausgelegt. Hier reagierte Wien schneller als viele Bundesländer und setzte auf sogenannte Checkboxen außerhalb der Praxen." In ausgelagerten Räumen - meist Baustellen-Container - werden Menschen mit Corona-Symptomen getestet, bevor sie eine Praxis betreten. Auch die Impfanmeldung funktionierte in Wien - verglichen mit anderen Bundesländern - beinahe reibungslos. Die Stadt hatte allerdings einen Startvorteil. Mit der Online-Plattform "Impfservice Wien" war eine entsprechende Infrastruktur bereits vor dem Ausbruch der Pandemie vorhanden. Auf viele der Wiener Ideen sprangen schlussendlich auch die Ministerien auf.

Aber natürlich ging auch in Wien einiges schief. "Für das Contact Tracing wurden lange Zeit zu wenig Ressourcen bereitgestellt, der Sommer wurde verschlafen", sagt Czypionka. "Hier ist Wien allerdings keine Ausnahme. Das war in ganz Österreich so."

Politik und Drecksarbeit

Die verschlafene Zeit beschert uns jetzt einen neuerlichen Lockdown. Er trägt sogar einen Namen. Seit Donnerstag herrscht in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland die Osterruhe. Die hohen Zahlen lassen dem Osten keine andere Wahl. Die Mutation B.1.1.7. bringt die Intensivstationen an ihre Kapazitätsgrenzen. Diesmal findet auch Ludwig drastische Wort. Der Bürgermeister warnt vor überlasteten Krankenhäusern, appelliert an die Bevölkerung, sich an die Maßnahmen zu halten, spricht von möglichen Triagen. Schon vor dem Beginn des Lockdowns hat Wien als erstes der drei betroffenen Bundesländer seine Verlängerung beschlossen. Am Mittwoch zogen Niederösterreich und das Burgenland nach. An belebten Plätzen - wie dem Donaukanal, dem Schweden-, Stephans- und Karlsplatz - gilt erstmals sogar eine FFP2-Maskenpflicht im Freien. Ob der Rest des Landes Wien folgt, bleibt abzuwarten. Experten gehen angesichts der steigenden Infektionszahlen davon aus.

Ein bisschen haben sich die Rollen gewandt. Die Scharfmacher von früher sind besonnener geworden. Die Besonnenen schärfer. Dem Vernehmen nach lehnt Kurz ein weiteres Herunterfahren des Landes ab, während Ludwig darauf drängt. Die Stimmung hat sich schon lange gedreht. Ein Lockdown wird von breiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr mitgetragen. Die Landeshauptleute des Ostens - allen voran Ludwig - wollen nicht allein als Osterspaßverderber dastehen. Kurz nicht als ewiger Überbringer der schlechten Nachricht in die Geschichte eingehen. Es ist das alte Dilemma der Politik. Keiner will die Drecksarbeit machen. "Politiker wollen naturgemäß nur das umsetzten und verkünden, was populär ist und was auch die Wähler wollen. Schließlich wollen sie gewählt werden. Nur so beendet man leider keine Pandemie", sagt Filzmaier. Sie sei der denkbar schlechteste Zeitpunkt, politisches Kleingeld zu lukrieren.

Natürlich haben zwei so unterschiedliche Parteien wie SPÖ Wien und Bundes-ÖVP unterschiedliche Vorstellungen davon, einer Krise zu begegnen. Lagen sie sich doch schon vor dem Ausbruch der Pandemie in nahezu jedem wichtigen Thema in den Haaren. Streitereien über Migration, Steuern, Sozialpolitik begleiten die Republik seit ihrer Gründung. Und das ist gut so. Kontroversen sind konstruktiver Bestandteil der Demokratie - solange sie der Sache dienen und keiner Partei.