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"Ein Afghane war das!"

Von Emran Feroz

Politik

Die Herausforderungen der afghanischen Diaspora in Österreich.


Der Name "Leonie" ist mittlerweile auch unter den afghanischstämmigen Menschen in Wien omnipräsent. "Ich wollte die Familie des Mädchens aufsuchen und ihr mein Beileid aussprechen", sagt Hafizullah Khaled, Mitte sechzig. Als er von der Massenvergewaltigung und dem Mord an der dreizehnjährigen Wienerin erfuhr, war es nicht nur die Brutalität der Tat, die ihn aufbrachte, sondern auch die Tatsache, dass es sich bei den vier Tätern um seine eigenen Landmänner - junge Burschen aus Afghanistan - handelte.

"Es ist bedauernswert, dass uns nun alle Österreicher als Mörder und Vergewaltiger sehen", meint Khaled. Seine vier Kinder sind allesamt Akademiker; ein Arzt, ein Jurist sowie zwei Bankkauffrauen. In den letzten Tagen sickerten immer mehr Details zum Ablauf der Tat durch. Drei der vier Täter sitzen mittlerweile hinter Gittern. Zwei von ihnen haben gestanden, Leonie W. mit Ecstasy-Tabletten betäubt, mehrfach vergewaltigt und ermordet zu haben. Es steht nun auch fest, dass sämtliche festgenommene Tatverdächtige volljährig sind. Ein vorgeblich 16-Jähriger ist einem Gutachten zufolge mindestens 18, möglicherweise 20 Jahre alt.

Obwohl Hafizullah Khaled die Täter nicht kennt, kann er sich deren Profile in etwa vorstellen. "Junge Männer und Jugendliche, die allein geflüchtet sind und womöglich einige Jahre im Iran verbracht haben", sagt er kurz und knapp. Sie sollen sich in den letzten Jahren als "Problemgruppe" innerhalb der afghanischen Communities entwickelt haben und fallen nicht nur den österreichischen Behörden negativ auf, sondern auch vielen Austro-Afghanen mit Migrationserfahrung. Doch was bedeutet dies konkret?

Früher flüchtete die Elite

Wer die afghanische Diaspora nicht kennt, kann mit derartigen Angaben nämlich nur wenig anfangen. Umso wichtiger ist ein Blick auf die Fluchtwellen aus Afghanistan, die Österreich in den letzten Jahren und Jahrzehnten erreicht haben. Hafizullah Khaled und seine Familie kamen 1993 nach Österreich. Kurz zuvor, 1992, fiel das Regime des letzten kommunistischen Präsidenten Afghanistans, Mohammad Najibullah, und die islamistischen Mudschaheddin-Rebellen nahmen Kabul ein. Afghanistan befand sich zum damaligen Zeitpunkt bereits vierzehn Jahre im Krieg. Najibullahs Regierung konnte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und des Abzugs der sowjetischen Truppen, die Afghanistan ein Jahrzehnt lang besetzten, weitere drei Jahre halten. Nachdem die wirtschaftliche und militärische Hilfe aus Moskau ein Ende fand, brach das Regime wie ein Kartenhaus zusammen - und für die meisten Afghanen begann eine neue Phase von Krieg und Vertreibung.

Hafizullah Khaled entstammte einer Schicht, die mit den Geflüchteten, die in diesen Tagen Österreich erreichen, praktisch nichts gemein hat. Er gehörte der gebildeten Elite des Landes an und war jahrelang als Diplomat tätig. "Ich begann meine Karriere bereits im jungen Alter. Damals war noch Präsident Daoud Khan an der Macht", erzählt er. Ähnlich elitär waren auch viele der anderen Afghanen, die damals sowie in den Jahren zuvor aus ihrer Heimat flüchteten.

1978 führten die afghanischen Kommunisten einen blutigen Putsch gegen das Regime von Daoud Khan, dem ersten und letzten Präsidenten der afghanischen Republik durch. Kurz darauf errichtete der erste kommunistische Diktator des Landes, Noor Mohammad Taraki, ein brutales Schreckensregime, in dem er die "Feinde der Revolution" jagen, foltern und ermorden ließ. Viele Afghanen flüchteten. Sie stammten aus den verschiedensten politischen Lagern.

Die Flucht ins ferne Ausland, etwa in die Vereinigten Staaten oder nach Europa, konnte sich in erster Linie allerdings die wohlhabende, urbane Elite leisten, während die Mehrheit der Geflüchteten in Lagern im Iran oder in Pakistan ausharren musste. Die Anzahl der Afghanen in Österreich war damals überschaubar. Die meisten zog es nach Wien, einer internationalen Metropole, wo bereits damals was los war. Während man damals Persisch oder Paschtu, die zwei bekanntesten Sprachen Afghanistans, auf den Straßen Wiens kaum zu hören bekam, sind sie mittlerweile fast schon zum festen Bestandteil der Stadt geworden.

Diaspora auch in Wien uneins

In den 1980er-Jahren handelte es sich bei den meisten afghanischen Geflüchteten um gebildete Menschen, die von dem kommunistischen Regime in Kabul und von der Roten Armee verjagt wurden. Währenddessen fanden auch afghanische Intellektuelle in Wien eine Heimat. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Universitätsprofessor und Dissident Ali M. Zahma, der im Juli 2018 verstarb und unter anderem als "Adorno Afghanistans" bezeichnet wurde. Zahmas Volksgruppe, die mehrheitlich schiitischen Hazara, würden erst Jahre später die afghanische Diaspora in Österreich massiv prägen und beeinflussen.

Bevor viele Hazara nach Österreich flüchteten, lebten sie zumeist im Iran, wo sie trotz ihrer schiitischen Konfession institutionellem Rassismus und zahlreichen Repressalien ausgesetzt waren. "Im Iran wird das Wort Afghani abwertend benutzt. Außerdem denken viele Iraner, dass alle Afghanen Hazara seien", erzählte mir ein Freund, der einst als Geflüchteter im Iran lebte, bereits vor Jahren. Auch in Afghanistan wurden die Hazara aufgrund ihrer Konfession sowie ihrer phänotypischen Erscheinung ("mongolische Gesichtszüge") jahrzehntelang verfolgt. Emir Abdur Rahman Khan, einer der bekanntesten Tyrannen der afghanischen Geschichte, ließ tausende von Hazara ermorden, verjagte sie oder ließ sie auf Sklavenmärkten verkaufen. All dies geschah Ende des 19. Jahrhunderts mit britischer Hilfe. Es war nämlich das Empire, das Abdur Rahman in Kabul an die Macht brachte. Der Emir war davon überzeugt, dass er einen modernen Nationalstaat nach westlichem Vorbild nur mittels Gewalt und Unterdrückung aus dem Boden stampfen könne. Viele Hazara sind von diesen Ereignissen bis heute traumatisiert. Hinzu kommt, dass der Rassismus gegen sie auch in diesen Tagen zunimmt, etwa nach der Ermordung Leonies.

Suche nach Sündenböcken

"Ein Afghane war das!", heißt es oftmals seitens der einheimischen Mehrheitsgesellschaft. "Wieder ein Hazara aus dem Iran", hört man allerdings meist innerhalb der afghanischen Diaspora, die weiterhin von Paschtunen oder Tadschiken aus der afghanischen Mehrheitsgesellschaft dominiert wird. Anstatt die Probleme innerhalb der Community konstruktiv zu lösen, wird stets nach einem Sündenbock gesucht. Dieser muss dann als Projektionsfläche für alle möglichen Emotionen herhalten - sowohl innerhalb der österreichischen Gesellschaft als auch der afghanischen Diaspora. Dabei stehen beide in der Verantwortung, denn beide erleben seit 2015 eine Zäsur.

Seit dem damaligen "Flüchtlingssommer" hat sich die Anzahl der Afghanen in ganz Europa nämlich vervielfacht. Die meisten Neuankömmlinge unterscheiden sich von alteingesessenen Geflüchteten, nicht nur, weil sie in vielen Fällen allein nach Europa kamen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sie einfach mehr Krieg und Vertreibung erlebt haben und teils gänzlich anderen Traumata ausgesetzt sind. "Die afghanische Community hat eine große Verantwortung gegenüber alleinstehenden Jugendlichen. Viele von ihnen haben einen schwierigen Fluchtweg und unvorstellbare Gefahren hinter sich. Sie brauchen Unterstützung bei ihrer Ankunft - und zwar von jenen Afghanen, die schon hier sind", sagt etwa Sima Mirzai, 26, die in Wien als Ärztin tätig ist.

Mirzai gehört der Volksgruppe der Hazara an und lebte einige Monate im Iran, bevor sie mit ihrer Familie nach Österreich flüchtete. Ähnlich wie Khaled hebt auch Mirzai hervor, dass die Flucht mit der Familie einen fundamentalen Unterschied darstellt. Dass es sich bei den meisten Tätern um Burschen oder junge Männer handelt, die als unbegleitete Geflüchtete nach Europa kamen, sei kein Zufall. "Die Menschen haben keinen sozialen Rückhalt und keine Vorbilder, die ihnen zeigen, wie man sich zu verhalten hat. Sie können meist nicht zwischen schlechten und guten Taten unterscheiden", so Mirzai.

Nicht nur Sima Mirzai ist der Meinung, dass die afghanische Community in Wien sowie in anderen Städten ebenjene jungen Männer auffangen muss. Gemeinsam mit anderen "Ältesten" aus der afghanischen Gemeinde versucht Hafizullah Khaled seit Jahren, den Kontakt zu jungen Geflüchteten, die vom rechten Weg abkommen könnten, zu suchen. Dies ist nicht immer einfach. "Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, doch die Behörden erschweren meist die Kontaktaufnahme, etwa aufgrund des bestehenden Datenschutzes", erklärt er.

Viele Jugendliche würden die Initiative nicht ergreifen und müssten laut Khaled deshalb abgeholt werden. Ein Problem ist allerdings gewiss auch die Tatsache, dass man nicht von der afghanischen Community sprechen kann - weder in Wien noch anderswo. Stattdessen fallen in vielen Städten meist mehrere Gemeinschaften und Vereine auf, die in verschiedene Ethnien und Konfessionen zersplittert sind. Es gibt deshalb auch keine einheitliche, afghanische Stelle, an die sich alleinstehende Betroffene wenden können.

"Das ist doch immer so. Paschtunen, Tadschiken, Hazara. Jeder kocht sein eigenes Süppchen. Konflikte aus Afghanistan werden in die Diaspora getragen", erklärt Massoud, ein afghanischer Geflüchteter. In den vergangenen acht Jahren hat er in Wien und Innsbruck gelebt und gearbeitet. Nach seiner Flucht aus Afghanistan wurde ihm vorläufig Schutz gewährt. Der Fall Leonie hat ihn nicht nur schockiert, sondern belastet ihn psychisch. Massoud hat Angst, dass die Situation in Österreich demnächst kippt und noch mehr afghanische Geflüchtete abgeschoben werden. "Es heißt, dass mein Schutzstatus bald nichts mehr wert sei. Die Leute wollen uns hier nicht mehr haben", sagt er besorgt.

Derartige Gerüchte haben sich in weiten Teilen der afghanischen Diaspora durchgesetzt. Nach Gewaltverbrechen werden die Forderungen nach Abschiebungen meist lauter. Auch Kanzler Sebastian Kurz meinte nach dem Bekanntwerden von Leonies Ermordung, dass es mit ihm "keinen Abschiebestopp nach Afghanistan geben würde". Wie problematisch derartige Aussagen sind und was sie mit unbescholtenen Geflüchteten, die sich in Österreich bereits ihr neues Leben aufgebaut haben, machen, macht Massoud deutlich. Er leidet mittlerweile an Schlafstörungen. Einige seiner Freunde wurden bereits in den letzten Wochen und Monaten abgeschoben. Keiner von ihnen war kriminell. Und selbst bei jenen, die etwas verbrochen haben, fragt er sich, warum die etablierten Mittel des Rechtsstaates nicht ausreichen, um die Täter zu bestrafen.

Taliban auf dem Vormarsch

2016 unterzeichnete die Europäische Union einen Abschiebe-Deal mit der afghanischen Regierung in Kabul. Milliardenhohe Hilfsgelder gibt es nur, wenn Afghanistan abgeschobene Geflüchtete aufnimmt. Dass man für deren Sicherheit nicht sorgen kann, wurde vor wenigen Tagen abermals deutlich. Berichten zufolge wurde ein abgeschobener Geflüchteter aus Deutschland, der im vergangenen Februar in Kabul landete, durch einen Granatenangriff in der nordafghanischen Provinz Baghlan getötet. Die Region gehört seit Jahren zu den unruhigsten des Landes. Doch nun scheint die Situation vor Ort abermals zu eskalieren.

Während die Nato-Truppen das Land verlassen, sind die radikalen Taliban auf dem Vormarsch. Allein seit Mai konnten die Extremisten über einhundert Distrikte erobern. Einigen Schätzungen zufolge lebt die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung bereits wieder unter Taliban-Kontrolle - nach zwanzig Jahren gescheiterten "Kriegs gegen den Terror". Aufgrund der zunehmenden Eskalation hat Kabul die Europäische Union bereits um einen Abschiebestopp gebeten. Während Schweden oder Finnland dieser Aufforderung bereits nachgekommen sind, ist dies bei Österreich nicht der Fall.

"Nicht jeden abschieben"

Auch einige Afghanen unterstützen die Abschiebungen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Politikwissenschaftler und Gerichtssachverständige Sarajuddin Rasuly. In einem Interview sprach er sich für die Abschiebungen von kriminellen Afghanen aus und behauptete, dass Kabul sowie die Stadt Herat im Westen des Landes "sicher" seien. Auf welche Daten sich Rasuly bezog, ist nicht klar. Ein Lokalaugenschein in Kabul vor wenigen Monaten war geprägt von Gewalt und Blutvergießen. Fast jeden Tag ging eine Autobombe hoch, während kriminelle Banden oder Terrorzellen wie der IS die Straßen unsicher machten und Menschen ermordeten. Derartige Zustände sind für niemanden zumutbar - auch nicht für Kriminelle.

Innerhalb der afghanischen Gemeinden in Österreich herrscht seit Jahren Unmut über Rasuly, dem Voreingenommenheit und sogar Rassismus gegenüber manchen afghanischen Volksgruppen vorgeworfen wurden.

Auch Hafizullah Khaled, ein Friedensaktivist, der seit Jahren Afghanistan weiterhin besucht und eine NGO für Schulkinder gegründet hat, kritisiert den prominenten Afghanen aus Wien und meint, dass viele Menschen innerhalb der Community regelmäßig ihren Unmut über Rasuly äußern. Für ein Abschiebestopp spricht sich allerdings auch Khaled nicht aus.

"Wir wollen nicht, dass jeder Afghane abgeschoben wird. Bei besonders schweren Kriminellen fällt mir allerdings keine andere Lösung ein. Man muss sich in einer Gesellschaft, die einen aufgenommen hat, korrekt verhalten. Andernfalls muss man mit derartigen Folgen rechnen. Vielleicht könnten solche Maßnahmen auch als Abschreckung für andere dienen", sagt er. Konstruktive Lösungen sind allerdings gegenwärtig notwendiger denn je zuvor. Die Lage in Afghanistan macht in diesen Tagen nämlich abermals deutlich, dass der Flüchtlingsstrom kein Ende finden wird - und Europa bald womöglich wieder erreichen wird.