Zum Hauptinhalt springen

Rechter als gedacht

Von Matthias Winterer

Politik

Das Bild der offenen Metropole - das Wien gerne von sich zeichnet - spießt sich mit den Missständen bei der MA 35. Ist die Stadt so restriktiv, wie sie es dem Bund gerne vorwirft? Eine Analyse.


Ist alles nur Schein? Wien, die soziale Großstadt, die Antithese zum konservativen Rest des Landes. Zwischen Wien und Bund zieht sich eine politische Bruchlinie. Auch beim Thema Migration stehen sie sich diametral gegenüber. Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) ist weit über die Grenzen des Landes für seinen restriktiven Kurs bekannt, er gewinnt damit Wahlen, wischt jeglichen Einspruch des grünen Koalitionspartners vom Tisch. Seine Partei will Zuwanderung einschränken, Fluchtrouten schließen, sie demonstriert Härte, schiebt bei Nacht und Nebel Kinder ab, ist unnachgiebig. Gesetz ist Gesetz.

Doch Wien hat damit nichts zu tun. Wien ist anders. Die rot-pinke Stadtregierung ist moderater. Die Neos setzen auf Integration. Die Sozialdemokraten machen traditionell liberale Migrationspolitik. Erst Anfang der Woche erklärte sich Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) bereit, vor den Taliban flüchtende Afghanen aufzunehmen. "Jetzt gilt es zusammenzuhalten", sagte Ludwig. Große Worte. Wien, eine tolerante, offene Stadt. Hier herrschen keine Vorurteile, schließlich war die Stadt schon immer ein Schmelztiegel der Kulturen. "Der echte Wiener hat eine böhmische und eine jüdische Großmutter", sagte Altbürgermeister Michael Häupl einmal. Hier wurden Gastarbeiter mit offenen Armen empfangen, hier werden Flüchtlinge aufgenommen, hier studieren junge Menschen aus aller Welt. Doch das Bild, das die Stadt gerne von sich zeichnet, spießt sich mit den jüngsten Berichten über die Wiener Einwanderungsbehörde (MA 35). Behauptung und Wirklichkeit wollen nicht so recht zusammenpassen. Ist die Kluft zwischen Wien und Bund nur inszeniert, um die Profile der Parteien zu schärfen? Ist die Stadt in Wahrheit genauso restriktiv, wie sie es dem Bund gerne vorwirft?

Mit der Offenheit ist es in den Niederungen des Wiener Verwaltungsablaufs schnell vorbei. Die Worte des Bürgermeisters verpuffen spätestes an der Eingangstür der MA 35. In den vergangenen Tagen wurden neue Missstände, einer ohnehin im Misskredit stehenden Abteilung, publik. Sie sind schwerwiegend. Sie zeigen das Gesicht einer kafkaesken Behörde, die ihren Klienten Steine in den Weg legt, wo es nur geht, die Biografien zerstört, Verzweiflung und Missmut sät. Aus Unfähigkeit, Überlastung oder mutwillig mit dem Vorsatz, Zuzug zu erschweren? Denn über der Misere der Abteilung schwebt die Frage, ob sie politisch erwünscht ist.

Lange Beschwerdeliste

"Die Telefone läuten bei uns den ganzen Tag. Abgehoben wird so gut wie nie", sagte ein anonymer Mitarbeiter der MA 35 am Dienstag im Ö1-Morgenjournal. Die Meldung machte schnell die Runde. Sie bestätigte den Verdacht, den viele Klienten der Abteilung seit langem haben. Zehntausende Menschen wenden sich jährlich an die MA 35, weil sie ein Visum brauchen, eine Staatsbürgerschaft, eine Aufenthaltsbewilligung. Dringende Anliegen. Menschen ohne Aufenthaltstitel können ihren Job verlieren, bekommen kein Geld vom AMS, keine Beihilfen, kein Kinderbetreuungsgeld. Sie sind auf eine kompetente Bearbeitung ihres Antrags angewiesen. Viel hängt davon ab.

Doch schon bevor der Mitarbeiter im Radio auspackte, durfte an der Kompetenz der Behörde gezweifelt werden. Immer wieder waren schleppende Verfahren, unfreundliche und überlastete Mitarbeiter, bürokratische Hürden öffentlich Thema. Bereits 2010 kritisierte die Volksanwaltschaft "Verzögerungen" und stellte fest, dass in einzelnen Verfahren über Monate "keine Ermittlungsschritte" gesetzt worden sind. 2015 ortete auch der Stadtrechnungshof überlange Verfahren und "eine Vielzahl von Verbesserungsmöglichkeiten". Im Herbst des Vorjahres bekamen Studierende aus Drittstaaten der Central European University (CEU) Post von der MA 35. Sie mögen das Land in den kommenden 24 Stunden verlassen. Ihre Anträge auf Visa konnten nicht schnell genug bearbeitet werden. Zuletzt - im April - stellte wieder die Volksanwaltschaft "erhebliche Verfahrensverzögerungen über Monate" ohne erkennbaren Anlass fest. 500 Beschwerden hat es heuer schon gegeben, fast alle wegen zu langen Verfahren. Tendenz steigend. Von 2015 bis 2019 ist die Dauer der Verfahren pro Antrag gestiegen, obwohl die Anzahl der Anträge im gleichen Zeitraum zurückging und die Zahl der Dienstposten von 238 auf 412 aufgestockt wurde.

Angst vor dem Amt

Auch bei der "Wiener Zeitung" trudelten in den vergangenen Wochen die Klagen Betroffener ein. Die Liste der Beschwerden ist lang. Da ist etwa die 24-jährige Amina aus Bosnien. Sie studiert an der Uni Wien. Im Jänner reichte sie die Unterlagen zur Verlängerung ihres Studentenvisums ein. Danach geschah nichts. Sie bekam weder eine Bestätigung noch sonst eine Rückmeldung. Auf Mails antwortete niemand, Stunden verbrachte sie in der Warteschleife - vergebens. "Ich drang maximal bis zur Vermittlung durch", sagt sie. Erst im April, ihr Visum war bereits abgelaufen, ist eine Mail im Postkasten. Sie solle die Unterlagen bitte nochmal einreichen. Endlich hat sie Kontakt zu einem Sacharbeiter. Er ist unfreundlich, fragt sie, wie es mit dem Studium überhaupt aussehe, meint, dass der Fall von einer Juristin geprüft werden muss. Nach sechs Monaten kündigt Amina eine Säumnisbeschwerde beim Verwaltungsgerichtshof an. Sieben Monate nach ihrem Antrag bekommt sie endlich ihr Visum ausgestellt. In der Zeit dazwischen durfte sie nicht arbeiten. Den Nachweis, dass sie über mindestens 800 Euro im Monat verfüge, verlangte das Amt trotzdem. "Ich konnte auch den Schengenraum nicht verlassen", sagt sie. Amina erzählt von Kolleginnen, die sich extra in Niederösterreich melden, um ihr Visa dort beantragen zu können.

Da ist Juri. Er wollte das Visum seiner Tochter vom Amt abholen. Vier Stunden wartete er am Gang, bis man ihm sagte, das Dokument sei leider nicht auffindbar, er solle heimgehen, man werde sich melden. "Ich erklärte ihnen, dass ich von ihnen herbestellt wurde, um das Visum zu holen." Mehr als ein Kopfschütteln bekam Juri nicht zur Antwort. Dann verschwand der Beamte hinter einer Bürotür.

Da ist der 40-jährige Daniel. Der Amerikaner ist mit einer Österreicherin verheiratet. Er kennt das Amt. Seit zehn Jahren hat er mit der MA 35 zu tun. Er hat Studentenvisa genauso beantragt wie Forschungsvisa. Mittlerweile ist sein Aufenthaltstitel fünf Jahre gültig. Er hing in Warteschleifen, musste die immer gleichen Dokumente wieder und wieder einreichen. "Als ich nach Wien kam, konnte ich noch kein Deutsch. Ich wollte ein Studentenvisum beantragen. Aber niemand in der MA 35 konnte mich auf Englisch beraten. Ich habe die Nummer der englischsprachigen Hotline gewählt. Als ich endlich durchkam, begrüßte mich eine Stimme auf Deutsch. Ich erklärte, dass ich kein Deutsch konnte. Dann hat der Mann aufgelegt." Als ihn seine Frau auf das Amt begleitete, wurde sie Sache einfacher. "Ohne sie hätte ich es wohl nicht geschafft an ein Visum zu kommen. Dabei bin ich als weißer Amerikaner privilegiert. Menschen mit einer anderen Hautfarbe werden in der MA 35 wesentlich abfälliger behandelt." Die Stimmung in der Behörde beschreibt Daniel als bedrückend. Der Unmut der Mitarbeiter sei permanent spürbar. "Man merkt in jeder Sekunde, dass sie ihren Job nicht gerne machen."

Amina, Juri und Daniel haben eines gemeinsam. Ihre Namen sind nicht echt. Alle Betroffenen, mit denen die "Wiener Zeitung" sprach, betonten mehrmals, anonym bleiben zu wollen. Sie haben Angst vor der Willkür der MA 35. Sie wollen nicht benachteiligt werden, weil sie an die Öffentlichkeit gegangen sind. "Die Verfahren der MA 35 sind nicht transparent", sagt etwa Daniel. "Man ist von der Gunst des Sachbearbeiters anhängig. Er hat die Macht, dir Steine in den Weg zu legen, dein Leben gravierend zu beeinflussen. Als Antragsteller ist man dem ausgeliefert."

Versagen mit Kalkül

Ernüchternde Berichte aus finsteren Amtsstuben. Vom geforderten "Zusammenhalt" des Bürgermeisters ist hier nichts mehr übrig. Betroffene erzählen von Angst, quälender Bürokratie, Schikanen und Hindernissen, schlichter Inkompetenz. Die Stadt Wien betreibt einen beachtlichen Aufwand, um das Image ihrer Magistratsabteilungen aufzupolieren. Sie verfolgen Werbestrategien. Mit Erfolg. Die Mistkübler der MA 48 (Abfallwirtschaft) sind angesehene Männer. Die MA 42 (Stadtgärten) pflanzt vor Vertretern der Presse Bäume. Die MA 31 (Wasser) sorgt für Gebirgswasser in der Großstadt. Sie werden wie hochmoderne Betriebe geführt. Die Stadt ist stolz auf ihre Verwaltung. Nur die MA 35 poliert niemand auf. Sie ist eine Baustelle. Im Rathaus flüstert man vom Abstellgleis der SPÖ. Eine kurzgehaltene, vernachlässigte Abteilung. Ein Stiefkind der Politik.

Hinter den Unzulänglichkeiten der Abteilung könnte Kalkül stecken. "Aus der MA 35 lässt sich kein politisches Kapital schlagen", sagt der Politologe Thomas Hofer. "Ich glaube nicht, dass es eine direkte Weisung gibt, Verfahren zu verschleppen, sichtlich bemüht, die Abteilung auf Vordermann zu bringen, ist die Stadt aber auch nicht." Funktioniert die MA 35 zu gut, könnte das der Wiener SPÖ bei Wahlen auf den Kopf fallen. Kaum ein Thema polarisiert mehr als Migration. "Es ist eine politische Gratwanderung", sagt Hofer. "Die Wiener SPÖ muss einen beachtlichen Spagat schaffen. Ihre Wählerschaft ist breit. Sie darf mit einem zu strikten Migrationskurs ihre liberalen Anhänger in den Innenbezirken nicht verschrecken. Sie muss aber auch auf ihre Wähler in den Flächenbezirken schauen. Und die wollen nun mal weniger Zuwanderer." Die Mehrheit sei für eine restriktive Migrationspolitik. "Die Stadtregierung will ÖVP und FPÖ keine Angriffsfläche bieten, indem sie zu viele Aufenthaltstitel vergibt."

Eine marode Abteilung ist freilich auch Angriffsfläche für die Opposition. Die ÖVP wird nicht müde den Stadtrat mit Anfragen zum Thema zu beschäftigen. "Die Abteilung ist ein einziges Chaos. Die Stadtregierung versagt hier komplett. Sie muss endlich für mehr Tempo bei den schleppenden Verfahren sorgen", sagt der Verfassungssprecher der Wiener ÖVP Patrick Gasselich gegenüber der "Wiener Zeitung". Auch die Grünen haben sich auf die MA 35 eingeschossen. Sie lassen die Abteilung vom Wiener Stadtrechnungshof prüfen. "Es kracht bei der MA 35 an allen Ecken und Enden. Darunter leiden Menschen nicht nur, sondern das ist vertane Lebenszeit und viele Menschen werden ihrer Zukunft beraubt. Das hat Folgen für die ganze Stadt", sagt Niki Kunrath, Menschenrechtssprecher der Grünen Wien in einer Aussendung.

Reform angelaufen

Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) kennt die Spielchen. Er war selbst in der Opposition und kritisierte dort die MA 35. Seit vergangenen Herbst trägt er als Stadtrat für Integration selbst die politische Verantwortung für die Abteilung. Er ist sich ihrer Probleme bewusst. "Wir haben den Reformprozess der MA 35 gestartet", heißt es auf Anfrage aus dem Büro Wiederkehrs. Als Sofortmaßnahme werde nun das Personal um zehn Prozent aufgestockt. An einem neuen telefonischen Service-Center werde bereits mit Hochdruck gearbeitet. Auch ein neues EDV-System soll es geben.

Wird aus der MA 35 jetzt auch eine moderne Magistratsabteilung? Wird ein frischer Wind den Amtsmief aus den Gängen blasen? Wird ein serviceorientierter Esprit einziehen? Der Erfolg der Reform wird entscheiden, wie liberal Wien tatsächlich ist. Eine Stadt ist nur so gut, wie ihre Verwaltung. Eine weltoffene Metropole kann sich keine kaputte Einwanderungsbehörde leisten. Denn die ist ein Ausdruck restriktiver Politik.