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"Politik ist kein Schönheitswettbewerb"

Von Christian Rösner

Politik

Die Konflikte kommen in einer Beziehung oft erst später - zwischen SPÖ und Neos war das nun zumindest bei der Valorisierung der Fall, erzählt Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr im Interview mit der "Wiener Zeitung".


Seit 20 Monaten ist Christoph Wiederkehr (Neos) Vizebürgermeister und Stadtrat für Bildung, Jugend, Integration und Transparenz: Ein Verantwortungsbereich mit einem Jahresbudget von 3 Milliarden Euro und mehr als 20.000 Mitarbeitern. Im Interview zieht der 32-Jährige Zwischenbilanz und spricht unter anderem über die Zusammenarbeit mit dem roten Koalitionspartner - und worüber man nicht immer einer Meinung ist.

"Wiener Zeitung": Herr Wiederkehr, als Maria Vassilakou von den Grünen 2010 in ihr neues Büro im Rathaus als damals frisch gekürte Vizebürgermeisterin gezogen ist, musste sie sich ihren Schreibtischsessel aus dem grünen Klub holen, weil ihr zwei Wochen lang kein entsprechendes Möbel zur Verfügung gestellt wurde - ist es Ihnen bei Ihrem Amtsantritt auch so ergangen?Christoph Wiederkehr: Der Start war auf alle Fälle sehr intensiv, weil er mitten in der Corona-Pandemie erfolgt ist. Tag eins mit Regierungsverantwortung hat mit Vollgas-Krisenmanagement begonnen. Da hat sich niemand über Büromöbel den Kopf zerbrochen.

Man hat Sie auch nirgendwo "anrennen" lassen, wie einst die Grünen?

Die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner waren von Beginn an fair, sodass unser Einstieg sowohl von der Verwaltung als auch von der SPÖ gut ermöglicht worden ist. Aber natürlich muss man vom Start weg seine Interessen vertreten und darauf schauen, dass man das bekommt, wofür man gewählt wurde und was man sich mit dem Koalitionspartner ausverhandelt hat. Das hat alles gut geklappt. Das heißt, der Start war - wie auch in einer Beziehung - sehr positiv, die Konflikte kommen meistens erst später.

Kritische Stimmen meinen, die Neos hätten in der Koalition nichts mitzureden, die SPÖ könne agieren, als ob sie die absolute Mehrheit hätte - sehen Sie das auch so?Oder anders gefragt: Wo kann man in der Regierungsarbeit die konkrete Handschrift der Neos erkennen?

Wir haben für das, was wir an Wählerstimmen und Mandaten bekommen haben, sehr viel durchsetzen können. Die Grundlage ist ein Koalitionsvertrag, in dem auch viele Projekte aus unserer ehemaligen Oppositionsrolle hineingekommen sind. Und es geht auch um die Art, wie wir arbeiten: Es gibt einen transparenten Regierungsmonitor, wo man rund um die Uhr online nachschauen kann, welche der mehr als 800 Projekte in der Koalition schon umgesetzt wurden beziehungsweise in Umsetzung sind. Das war uns sehr wichtig, weil wir unsere Politik komplett nachvollziehbar machen wollen.

Wie ist der derzeitige Stand?

Wir haben bereits mehr als Drittel umgesetzt und stehen genau im Soll.

Und was sind hier konkret die pinken Projekte?

Zum Beispiel die Whistleblowing-Plattform, die es nur in Wien gibt und wo der Bund noch säumig ist. Was mir besonders wichtig war, ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen mit dem Kinder- und Jugendparlament zu stärken. Und wir sind vor allem die Treiber der Energiewende - und zwar schon vor dem Krieg in der Ukraine. Wir haben in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt, dass Wien bis 2040 energieautark und Co2-neutral sein soll - mit einem Klimabudget und mit einer Verfünffachung der Photovoltaik. In Sachen Klima sind wir der Motor gewesen. Auch mein Wahlversprechen, die Luftsteuer abzuschaffen, wurde umgesetzt.

In der öffentlichen Wahrnehmung werden aber die meisten der genannten Maßnahmen der SPÖ zugeschrieben beziehungsweise auch von der SPÖ für sich beansprucht.

Für mich ist Politik kein Schönheitswettbewerb. Wir machen das alles nicht zum Selbstzweck, um in der Öffentlichkeit zu stehen, sondern wir wollen Probleme und Herausforderungen lösen. Wenn die Projekte, die wir angeregt und ausverhandelt haben, auch umgesetzt werden, dann machen wir effektive Politik und darum geht es mir.

Aber wenn die Wähler nicht wissen, dass das alles auf das Konto der Neos geht, dann werden sie bei der nächsten Wahl die SPÖ und nicht Sie wählen.

Deswegen freue ich mich, dass ich in diesem Interview den Leserinnen und Lesern der "Wiener Zeitung" darstellen kann, was wir schon alles geschafft haben. Mir ist eben auch Haltung in der Politik wichtig. Man sieht oft in der Bundesregierung, dass sich die Koalitionspartner auf Kosten des anderen behaupten wollen und das ist schädlich für die Demokratie. Und ich bin zuversichtlich, dass die Wiener Bevölkerung sieht, dass durch uns zusätzlicher Fortschritt, mehr Zukunftsorientierung und mehr Dynamik in die Regierungsarbeit gekommen ist. Ich sehe auch, dass wir einen großen Vertrauenszuspruch bekommen - und das in einer Zeit von nationalen und internationalen Krisen.

Aber Sie haben vor allem die "Skandalressorts" inne - dass in der Einwanderungsbehörde niemand mehr abgehoben hat oder dass ein Missbrauchsverdacht in einem Kindergarten vertuscht wurde, liegt doch in ihrem Verantwortungsbereich oder? Ist das Ihre Schuld oder sind das Altlasten Ihrer Vorgänger?

Ja, es gibt in meinem Zuständigkeitsbereich sehr viele Herausforderungen - einerseits, weil Wien sehr schnell wächst, aber auch weil die Pandemie und der Ukrainekrieg massive Auswirkungen haben. Und ja, es gibt viele Bereiche, wo es starken Reformbedarf gab und gibt. Ich pflege aber auch einen anderen Regierungsstil, denn mir geht es stets darum, lückenlos offenzulegen, wo es Probleme gibt, wie etwa der schonungslose Prüfbericht über Herausforderungen und Probleme im Kinderschutz bei den städtischen Kindergärten. Da leben wir Transparenz und Fehlerkultur: Wir schauen hin, wo es nicht funktioniert, lernen daraus und versuchen, es besser zu machen. Es kommt zum Beispiel jetzt eine Gesetzesnovelle in Begutachtung, um den Kinderschutz in Wien zu verstärken. Dasselbe bei der MA35: Es gibt viele Herausforderungen und wir sind inmitten eines sehr ambitionierten Reformprozesses. Bei mehr als 150.000 Verfahren im Jahr dauert aber natürlich auch der schnellste Reformprozess seine Zeit.

Aber das bedeutet, dass die Missstände eigentlich auf Ihre Vorgänger zurückzuführen sind.

Ich kann Dinge nur beurteilen, wenn sie mir berichtet werden und dann sehe ich meinen Auftrag, die Probleme zu beheben und Abläufe effizienter zu machen. Vergangenheitsbewältigung sehe ich nicht als meine Aufgabe, weil sie nichts voranbringt.

Sind die Zustände in der MA10 oder MA35 beispielgebend für andere Abteilungen der Stadt?

So ist es nicht. Man muss auch bitte sehen, dass es auch etwa bei der MA10 vorwiegend positive Aspekte gibt. Vor allem die Wiener Kindergärten mit ihren mehr als 8.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind unglaublich beliebt. Es gibt kaum eine andere Stadt, wo Kindergartenplätze so begehrt sind wie bei uns.

Trifft das auch auf die Volksschulen in Wien zu?

Ich sehe unsere Hauptaufgabe in der Stärkung der Kindergärten und der Schulen und da ist uns auch schon sehr viel gelungen. Im Schulbereich etwa haben wir es geschafft, dass jeder Standort eine administrative Unterstützung bekommt. Wir haben auch die Sprachförderung verbessert und wir kämpfen für eine gerechtere Verteilung jener Ressourcen, die vom Bund kommen. Denn Wien hat als Ballungsraum ganz andere Herausforderungen zu bewältigen als die übrigen Bundesländer, bezieht aber weniger Geld. Zum Beispiel bekommt eine Schule am Wörthersee in Kärnten pro Volksschüler um 20 Prozent mehr Mittel zur Verfügung gestellt als eine Schule in Ottakring. Das ist eine ungerechte Ungleichbehandlung. Es bräuchte hier einen Chancenindex, damit Schulen mit besonderen Herausforderungen auch mehr Geld bekommen.

Was würde das in Zahlen gegossen genau bedeuten?

Wien braucht 1.000 Lehrkräfte zusätzlich.

Ein weiteres wichtiges Thema war den Neos immer Transparenz. Zwar gibt es etwa eine Reform der U-Ausschüsse in Wien, aber vor allem die Wiener ÖVP kritisiert, dass sie nicht weit genug geht. Wurde hier vonseiten der Neos schlecht mit der SPÖ verhandelt?

Ich habe selbst in zwei U-Ausschüssen als Abgeordneter gearbeitet und gesehen, was die Hauptproblemfelder waren - die Lösungen dafür finden sich im Koalitionsvertrag wieder, wurden mit der Opposition verhandelt, bereits nach einem Jahr Koalition im Zuge einer Reform auf den Boden gebracht und haben eine deutliche Stärkung der Oppositions- und Minderheitenrechte nach sich gezogen. Da finde ich es schon interessant, dass die ÖVP genau das kritisiert und gleichzeitig im Bund gefordert hat, dass die Wahrheitspflicht abgeschafft wird. Und es ist nicht das einzige Projekt, wo wir uns für mehr Kontrollmöglichkeiten einsetzen - aktuell verhandeln wir etwa gerade die Stärkung der Unabhängigkeit des Stadtrechnungshofs und mehr Prüfungskompetenzen.

Apropos Prüfungskompetenz: Es war immer eine Forderung der Neos, dass auch die ausgelagerten Unternehmungen der Stadt geprüft werden können, bisher ist diesbezüglich nichts geschehen, wird sich das ändern?

Auch zu diesem Thema wird gerade in einer Arbeitsgruppe verhandelt. Meine Auffassung ist, dass es so viele Prüfkompetenzen wie möglich beim Stadtrechnungshof geben soll.



Auch was die ausgelagerten Unternehmungen betrifft?

Der Stadtrechnungshof soll so viel möglich prüfen können, zum Beispiel auch die ausgelagerten Unternehmungen oder / und sollte die Anfragemöglichkeit der Opposition dahingehend verbessert werden.

Was sagt der Wiener Vizebürgermeister dazu, dass die Fernwärme um 92 Prozent teurer wird?

Die Preissteigerungen im Energiebereich sind extrem beängstigend. Das ist aber eine europäische Entwicklung aufgrund des Kriegs in der Ukraine. Nachdem wir in Wien leider noch immer stark abhängig vom Gas sind, muss es diese Preisanpassung geben. Deswegen zwei Prioritäten: Raus aus Gas - und es gibt keine Dividendenauszahlungen der Wien Energie an die Stadt, sondern es wird alles für Investitionen in erneuerbare Energie verwendet plus zusätzliches Geld für die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung gestellt.

Die Gebühren werden aber jetzt auch noch erhöht - sind Sie da einer Meinung mit der SPÖ?

Wir sollten die Wienerinnen und Wiener in so vielen Bereichen wie möglich entlasten. Deswegen haben wir uns auch in Verhandlungsrunden für ein Aussetzen der Valorisierung eingesetzt. Wir waren klar dafür, die Gebührenerhöhungen aufgrund der hohen Inflation heuer auszusetzen, konnten uns hier aber leider nicht durchsetzen.