Wien. Ein bisschen Tom Sawyer. Ein bisschen Draufgänger. Ein bisschen paranoides Nervenbündel. So fühlt es sich an, wenn man eines Nachmittags mit Herbert Huber und Elias Schmidt in Döbling vor den verrosteten Gitterstäben eines meterhohen Zauns steht. Fachmännisch inspizieren die zwei Mittzwanziger die Absperrung. Wie Speere ragen wie Zaunspitzen in den Himmel. Die Botschaft ist klar: Wer sich darüber wagt, endet als menschliches Schaschlik. Wäre da nicht eine kleine Lücke in der Speerreihe. Eine abgebrochene Spitze schafft gerade einmal genug Platz für ein Kinderbecken. Ideal für Schmidt. Er zwängt sich als Erster durch. "Versuch, dein Bein mit einem Mal rüberzuschwingen. Dann ist es leichter", weist er den Laien an, der ihm wie ein hilfloses Stück Fleisch entgegenzittert, ahnend, dass sich die Schaschlik-Prophezeiung bald erfüllen könnte. Es bedarf Übung, um so flink wie Schmidt und Huber auf fremde Anwesen zu klettern.
Damit haben die zwei Studenten Erfahrung. Sie sind Urban Explorer. Stadterkunder. Sie steigen in leere Villen, streifen durch Industrieruinen, klettern Kräne hinauf und wandern durch die Kanalisation. Ihre Devise: Nimm nichts mit außer Fotos, lass nichts zurück außer Fußabdrücke. "Wenn ich auf der Straße gehe und ein Haus sehe, bei dem die Fassade bröckelt und die Jalousien schief hängen, ist das ein eindeutiges Zeichen", sagt Herbert Huber. "Irgendwann wird alles zu einem potenziellen Eingang."
Auf der ganzen Welt wandern diese modernen Archäologen durch ihre Städte auf der Suche nach den vergessenen Geschichten hinter den schmucken Fassaden. In Wien gibt es laut Schätzungen rund 20 Urban Explorer. Sie genießen den Sonnenaufgang auf dem Flakturm, stöbern durch vergilbte Fotoalben in einsturzgefährdeten Villen und essen Fondue in einem der Türme der Votivkirche.
"Die meisten Menschen kommen gar nicht auf die Idee, dass man in diese Orte reinkommt. Das ist nicht auf dem Schirm. Gerade in der Stadt hat ja alles eine Funktion", sagt Schmidt, "du tanzt nicht aus der Reihe." Es klingt nach Draufgängertum. Dabei ist der angehende Politikwissenschafter sehr vorsichtig. Bei jedem Wort dreht er sich um, darauf bedacht, dass ihn keiner belauscht hat. Deswegen soll auch nicht sein richtiger Name in der Zeitung stehen, lediglich, dass er "Referatsleiter" des "Instituts für Stadterkundungen" ist, einer Internet-Seite, die er mit Huber vor eineinhalb Jahren gegründet hat, um ihre Streifzüge zu dokumentieren.