Wien. Ein älterer Mann steht stoisch am Geländer der dünn besetzten Tribüne. Gebannt blickt er auf die Rennbahn - die Zeitschrift mit den Wettquoten in der linken, eine Zigarette in der rechten Hand. Sein Gesicht zeigt keinerlei Emotion. Erst als die Pferde unter müdem Applaus über die Ziellinie traben, verrät ein leises "Scheiße" seinen Gemütszustand. Sofort konzentriert er sich auf das nächste Rennen und kritzelt hektisch im Quotenheft herum. "A Mensch mecht i bleim, und ned zur Nummer mecht i wern", kracht es aus den Lautsprechern.

"Im Nächsten setz’ ich auf Nummer elf", verkündet er seinem Nachbarn. Siegwette auf den Traber "Ronaldo Venus" also. Menschen seines Alters, Geschlechts und Aussehens sind eindeutig in der Überzahl an diesem wolkenverhangenen Junitag an der Trabrennbahn Krieau. Schnauzbärte, Bierbäuche und Männerhandtaschen, wohin man blickt. Ihre Frauen verbringen den Sonntag fast ausschließlich bei Weißwein und Grillteller unter den Werbe-Sonnenschirmen im Gastrobereich der Rennbahn. Volksfeststimmung gepaart mit einem Hauch von Welt und Geschichte.

Weltstadt des Trabrennsports


Seit mehr als 130 Jahren werden in Wien Trabrennen gelaufen. Erst in der Prater Hauptallee, ab 1878 auf der neu errichteten Trabrennbahn Krieau. Das 1000 Meter lange Oval sollte im Laufe der Jahrzehnte turbulente Zeiten erleben. Nach einem etwas flauen Beginn stieg Wien vor der Jahrhundertwende zu einer echten Weltstadt des Trabrennsports auf. Der Bau eines einzigartigen Tribünen-Areals, der heutigen Anlage übrigens recht ähnlich, löste einen regelrechten Pferdeboom aus. Die Einführung des Totalisators - eines Systems, bei dem die Spieler nicht gegen den Buchmacher, sondern untereinander wetten - kurbelte die Popularität weiter an. Nach dem Zerfall der Kaisermonarchie verlor die Stadt zwar ihre Vorreiterrolle im europäischen Trabrennsport, fand aber bald wieder zu alter Stärke. Vor allem der legendäre "Jahrhundert-Traber-Heinrich" lockte die Wiener in den 1930er Jahren zu Zehntausenden in die Krieau.

Relikt vergangener Zeit


Diese Zeiten sind lange vorbei. Im Schatten des Ernst-Happel-Stadions stehen die ehrwürdigen Tribünen heute eher verloren neben dem Neubau der Wirtschaftsuniversität. Der alte Zielrichterturm im Inneren der Bahn wirkt wie ein Relikt vergangener Tage. Sein Stahlskelett macht den Anschein, jeden Moment in sich zusammenzuklappen. Krähen picken in den Pausen zwischen den Rennen Saatgut von der Bahn. Gekreische und Musik aus dem benachbarten Wurstelprater überlagern immer wieder den ruhigen Tonfall des Platzsprechers. Betagte Männer diskutieren, auf ihren Gehstöcken gestützt, die Chancen des Pferdes "Caramba" im anstehenden "Försterschinkenpreis". Der Altersschnitt des Publikums erzählt viel über den aktuellen Stellenwert von Pferderennen im Wettsport. Dieser verlagert sich heutzutage fast ausnahmslos in städtische Wettbüros und natürlich ins Internet. Der Flair vergangener Tage ist einer trostlosen Endzeitstimmung gewichen.