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Weihnachten der Genossen

Von Solmaz Khorsand

Politik

Wiens SPÖ stimmt sich am 1. Mai auf die Gemeinderatswahlen im Herbst ein.


Wien. Während die letzten Nachteulen mit der Straßenbahn am Freitagmorgen nach Hause tuckern, herrscht in der Marktgasse 2 Hochbetrieb. Es ist sieben Uhr im Bezirkslokal der SPÖ Alsergrund. In wenigen Stunden marschieren die Genossen zum Rathausplatz, um ihre Granden sprechen zu hören. Davor haben sie aber eine Mission: Sie müssen ihren Bezirk gebührend für den Tag der Arbeit herausputzen.

Mit roten Schleifen rücken sie aus, um jeden Mast im 9. Bezirk zu bemascherln. Die Stadt soll sehen, dass heute der 1. Mai ist. Es ist der Tag, an dem man als Linker alle Grabenkämpfe, alle ideologischen Differenzen und persönlichen Animositäten hinter sich lässt, sich eine Nelke aus Krepppapier von den Kinderfreunden ans Revers heftet und sich gegenseitig Freundschaft wünscht.

Von Mavericks und der wahren Arbeiterklasse

Heute gibt es keinen Unterschied zwischen dem Parteisoldaten, dem Penthousesozialisten oder dem Rebellen. Heute feiern sie alle den Tag der Arbeit. Der 1. Mai ist ihr Weihnachten. Mehr als 100.000 Menschen sind gekommen. Sie hören, wie Bundeskanzler Werner Faymann von der Notwendigkeit der sechsten Urlaubswoche für alle spricht und wie Wiens Bürgermeister Michael Häupl die Genossen auf die Gemeinderatswahlen im Herbst vorbereitet: "Wir müssen niemanden fürchten. Wir versprechen bewusst nicht alles. Aber wir haben den Mut, den Eifer und den Willen dazu, für möglichst viele die sozialen Verhältnisse möglichst gerecht zu gestalten." Es gilt, die rote Hochburg zu verteidigen, nicht nur gegen die blaue Opposition - die sich am selben Tag im Linzer Bierzelt einstimmt -, sondern auch gegen den grünen Koalitionspartner.

1951 stand Günther Radda das erste Mal am 1. Mai auf der Straße. Der Krieg war zu Ende. Österreich war besetzt. Und Radda lebte zum ersten Mal in einer Gemeindewohnung mit Strom, Klo und Wasser in den eigenen vier Wänden. Die Errungenschaften des roten Wiens waren keine abstrakten Worthülsen aus Geschichtsbüchern, sondern sie waren zum Anfassen nah. Radda war damals 13 Jahre alt und trug das blaue Hemd der Roten Falken, der Jugendorganisation der SPÖ, als er zum ersten Mal am Tag der Arbeit am Rathausplatz stand. Seither ist der heute 77-Jährige jedes Jahr gekommen. "Für mich ist es mehr als eine Tradition. Das ist meine Partei. Das ist wie eine Familie", sagt er. Nie hat der gelernte Möbeltischler an dieser Familie gezweifelt. Sein Credo: "Intern kann man sich beflegeln, nach außen muss die Bewegung Geschlossenheit zeigen."

Es ist ein Seitenhieb auf die jungen Genossen, vor allem auf jene der Sektion 8 am Alsergrund. Als "Staat im Staat" werden sie bezeichnet. 2011 wurden sie bekannt, als sie gegen den Willen der Parteiväter am SPÖ-Landesparteitag das Ende des kleinen Glückspiels durchsetzen konnten. Heute gelten sie als die Rebellen in der SPÖ, jene, die auch in der Öffentlichkeit Kritik an der Parteispitze üben wie zuletzt an der gescheiterten Wahlrechtsreform, als der grüne Mandatar Senol Akkilic eine Stunde vor der Abstimmung im Landtag plötzlich als neuer Genosse präsentiert wurde und so die Abstimmung über die Reform verhindert werden konnte.

Nicht selten kritisiert man die roten Mavericks innerhalb der Partei. Abgehobene Akademikerkinder sollen sie sein, die nichts von der wahren Arbeiterklasse verstehen würden. Schließlich streben die meisten der Sektion 8 keinen Posten in der Partei an - und müssen sich dementsprechend auch keinem Apparat unterwerfen. Ihrem Erfolg tut das keinem Abbruch. Nach sieben Jahren hat die Sektion 300 Mitglieder und ist damit die mit dem größten Mitgliederzulauf in Wien. Offiziell zählt die SPÖ in Wien knapp 50.000 Mitglieder.

Das Individuum steht im Vordergrund

28 Jahre lang war Günther Radda Vorsitzender der Sektion 10 im 9. Bezirk. 450 Mitglieder hatte sie, als er 1985 gekommen war. Als er sie 2013 verließ, waren es nur noch 80. "Viele haben gesagt: ‚Was brauche ich eine Partei, mir ist wichtig, wenn ich mein Geld verdiene‘", erzählt er. Die Leute seien zu egoistisch geworden, Werte, wie sozialer Zusammenhalt, Gleichheit und Gerechtigkeit, jene Werte, die er als kleines Kind noch bei den Wochenenden der Roten Falken am Lagerfeuer eingetrichtert bekam, haben für die meisten keine Bedeutung mehr. Der Materialismus habe alles verdrängt.

Es ist ein neues Zeitalter. Das Individuum steht im Vordergrund. Nur die Leistung des Einzelnen zählt. Die Masse wird als bedrohlich empfunden, sich mit einer Bewegung zu solidarisieren, als ewiggestriger Dogmatismus abgetan. Dennoch: Auch die Jungen zeigen am 1. Mai ihr rotes Fähnchen. In der Nacht vom 30. April marschieren sie mit ihren Fackeln im Nieselregen von der Oper bis zum Rathausplatz, diskutieren über die ideologiefreien Neos, den neuen Genossen "Senol", den dreckigen "House-of-Cards-Moment" vor der Abstimmung und wie entscheidend dieser war, um eine weitere Auflage der rot-grünen Koalition im Oktober 2015 zu ermöglichen. Zu viel habe sich der kleine Koalitionspartner erlaubt. Nach zwei Stunden stehen sie klitschnass am Rathausplatz, tanzen zu den Hip-Hop-Klängen der deutschen Band Mono & Nikitaman, bevor sie wenige Stunden später in der Früh in ihren Vereinslokalen stehen und Helium in rote Luftballone füllen, während im Hintergrund das Lied "die Arbeiter von Wien" läuft.

Warum tut sich ein junger Mensch das heute an? Wer will sich freiwillig einer verstaubten Politmaschinerie unterwerfen? Ist es reines Karriere-Kalkül?

Anna lächelt. Sie ist seit September Mitglied bei der SPÖ. Zum ersten Mal marschiert die 20-jährige Jusstudentin beim 1. Mai unter der roten Flagge. "Ich kann das System nur von innen ändern", sagt sie, "denn von außen habe ich keine Chance."