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Kopenhagens einsames Businessviertel

Von Lisa Arnold aus Kopenhagen

Politik

Dänemarks Hauptstadt ist Vorreiter in Sachen Stadtentwicklung. Nur mit dem seelenlosen Stadtteil Ørestad hat man sich ein bisschen überschätzt.


Kopenhagen. Sag mir, wo die Menschen sind: In Kopenhagens urbanem Zuwachs Ørestad bewegt sich wenig. Es scheint so, als wachten die glänzenden Hochhäuser - mal manieristisch gedreht, mal mit keck hervorstehenden Balkonen - mit argwöhnischem Blick über die Straßen, damit ihnen bloß kein schnöder Homo sapiens die Schau stiehlt. Gleichzeitig bevölkern die Kopenhagener ganz in der Nähe Straßen und Plätze und leben den Radlergeist, um den die Welt Skandinavien beneidet. Wie konnte dieser Kontrast entstehen - im glücklichsten Land der Welt?

Kopenhagen und Radfahren lassen sich so wenig trennen wie Wien und seine Kaffeehäuser. Um Vororte an die Hauptstadt anzubinden, hat Kopenhagen seit 2012 zwei sogenannte Fahrrad-Highways eröffnet, über die Pendler in die Stadt kommen. 26 weitere Strecken sind in Arbeit, und das Netz der neuen Schnellstraßen wird rund 500 Kilometer umfassen. Passend zu dieser Entwicklung hin zum alltäglichen Langstrecken-Radeln kommt heuer auch der sogenannte Kopenhagen-Reifen auf den Markt. Am Massachusetts Institute of Technology gemeinsam mit der Stadt Kopenhagen entwickelt, erweitert es die Vorzüge eines Elektrorades, indem es sich dem Fahrverhalten des Radlers anpasst und die beim Treten produzierte Energie speichert.

Jeder dritte Kopenhagener tritt täglich auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule in die Pedale. Von solchen Zahlen kann Maria Vassilakou in Wien nur träumen. Die Stadträtin für Stadtentwicklung gab erst Anfang April bekannt, dass sich in Wien heuer maximal acht Prozent Radverkehrsanteil ausgehen. Der Grund: Viele Bezirke wollen die Autofahrer nicht verärgern.

Doch wem will man es in einer Stadt recht machen? Der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl setzt sich seit seinem Studienabschluss 1960 dafür ein, Straßen von den Autos zurückzuerobern und den Menschen ihren Platz einzuräumen. Anstatt aus der Luftperspektive solle man ein Stadtbild aus der Sicht des Menschen planen. Nur so könne ein Umfeld in einem Maßstab entstehen, das die Bewohner zum Austausch statt zum Durchgehen anregt. Und Radfahren ist ein essenzieller Bestandteil der Interaktion des Menschen mit seiner Stadt.

Gehls Beobachtungen, die er in Büchern wie "Leben zwischen Häusern" und "Städte für Menschen" veröffentlichte, haben Metropolen in aller Welt zu freundlicheren Orten gemacht. Bei seinem Wiener Vortrag im vergangenen Sommer gestand der Guru urbanen Lebens der Donaumetropole großes Entwicklungspotenzial zu. Nicht nur für den raschen Verkehr geschulte Erwachsene, sondern vor allem Kinder und Ältere sollen sich auf ihren Wegen sicher fühlen - die Umgestaltung der Mariahilfer Straße sei ein Schritt in diese Richtung.

Auch in Gehls Heimatstadt Kopenhagen, die ihm die berühmte Fußgängerzone Strøget und Schanigärten mit dem Flair italienischer Urlaubsorte verdankt, tut sich einiges. Bis zum Jahr 2025 will sie die erste klimaneutrale Hauptstadt der Welt werden. Man setzt auf nachhaltige Stadtplanung, was Studierende an der Aalborg Universität Kopenhagen auch als Masterprogramm belegen können.

Austausch fehlt

Die Realisierung des Uni- und Businessbezirkes Ørestad - acht Kilometer, sieben Metrostationen oder 25 Radminuten vom historischen Zentrum entfernt - gehört zu den aktuellen Herausforderungen dänischer Stadtplanung. Nach der in den Sternen stehenden Fertigstellung sollen dort neben jeweils 20.000 Einwohnern und Studenten auch 80.000 Arbeitsplätze untergebracht werden. Damit tummeln sich hier eines Tages dreimal so viele Menschen wie in Aspern, und das auf einer Fläche, die nur etwa ein Drittel mehr belegt als die Wiener Seestadt. Studenten und Mittagspause Machende könnten schon heute das Stadtbild prägen - tun sie jedoch nicht.

Dabei leuchtet das Konzept ein: Mit seiner Nähe zum Flughafen und zum Nachbarland Schweden, der Dichte an Hochschulen und der hohen Kapazität für Unternehmen könnte sich Ørestad zu einer Karrierehochburg entwickeln. Doch aufgrund der großzügigen Planung ist genau das passiert, wogegen Jan Gehl seit dem Vormarsch der Automobilindustrie in den 1960er Jahren so vehement ankämpft: Dass Straßen nur mehr als Korridore dienen und den menschlichen Austausch in abgeschlossene Innenräume zurückdrängen. Die Abstände zwischen Häusern sind groß, und quer über die Straße ist Blickkontakt unmöglich. Der überdimensionierte Maßstab und die Abwesenheit von Stadtgeräuschen verursachen ein Gefühl von Einsamkeit. Kritiker sehen daher am Beispiel Ørestad nicht nur einen Rückschritt im Hinblick auf den menschlichen Faktor, sondern schlichtweg ein städteplanerisches Scheitern.

Um das Geschäft in der Vorstadt zu beleben, eröffnete das damals noch aktive, von Stadtregierung und Finanzministerium beauftragte Ørestad-Entwicklungsunternehmen 2004 das Einkaufszentrum namens Fields. Es verspricht den größten Kauf- und Freizeitspaß in Skandinavien. Doch eigentlich haben die dänischen Stadtplanungsrichtlinien Einkaufszentren bislang unterbunden, um das lokale Geschäft zu fördern. Für diese Superlative verspielte man den Versuch, die umliegenden Straßen zu beleben. Einen Grund für das Ignorieren menschlicher Größenverhältnisse sehen Kritiker in der Zusammenarbeit der Stadtregierung mit privaten Investoren: Wo Risiken ausgeschlossen und Gewinne maximiert werden, ist wenig gedanklicher Freiraum für das menschliche Wohlbefinden.

Der Produktingenieur Henrik Rasmussen empfindet Ørestad nicht als natürliche Erweiterung des Stadtzentrums: "Meine Cousine lebt dort - schöne Wohnungen, sage ich immer, aber keine Seele." Ein anderer Freund sei wieder in die "richtige" Stadt zurückgezogen. "Die Menschen wollen einen Ort mit Flair und Geschichte - und das kann man nicht einfach aus dem Boden stampfen."