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Die x-förmige Stadt

Von Birgit Holzer aus Paris

Rund um Paris haben sich Stadtplaner an fünf Orten mit der "Ville nouvelle" an der Utopie der modernen Stadt versucht. Mit verspätetem Erfolg.


Paris. Es war die Utopie von einer modernen Stadt, die aus dem Nichts entstehen, kulturell lebendig und sozial durchmischt sein sollte. Die in der Nähe einer Metropole liegt und sich zugleich selbst zu einem Zentrum für die umliegenden Gemeinden entwickelt. Einer radikal "Neuen Stadt" oder französisch "Ville nouvelle", wie die Regierung in Paris das Konzept von Retorten-Städten bei deren Schaffung in den 60er Jahren nannte. Es orientierte sich an den "New Towns" um London, wollte aber die dort gemachten Fehler vermeiden. Denn diese galten als zu klein geplant, um belebte Zentren zu werden, und als zu weit von der Hauptstadt entfernt, um deren Bewohner anzuziehen.

So befeuerte Frankreichs damaliger Präsident Charles de Gaulle 1965 den Bau von fünf Planstädten, die jeweils rund 30 Kilometer von Paris entfernt lagen. Sie sollten der als notwendig erachteten Dezentralisierung Vorschub leisten als dichte urbane Zonen mit Wohnungen, Freizeitangeboten und Arbeitsplätzen. De Gaulle stützte sich allerdings auf demografische Prognosen, die sich nicht bewahrheitet haben: Sie sagten damals bis zum Jahr 2000 ein starkes Bevölkerungswachstum auf bis zu 16 Millionen Menschen für den Großraum Paris voraus - heute wird deren Zahl auf rund zwölf Millionen geschätzt.

So entstanden im Norden der Hauptstadt Cergy-Pontoise, im Osten Marne-la-Vallée, das von der Nähe zum Freizeitpark Eurodisney profitiert, im Südwesten Saint-Quentin-en-Yvelines und im Südosten Melun und Évry. Konstruiert wurden diese "Villes nouvelles" in der Form eines X: Die Arme stellen Stadtviertel dar, die sich im Zentrum kreuzen; hier konzentriert sich das wirtschaftliche und politische, soziale, kulturelle und religiöse Leben, es entstanden Parks, Grünflächen und postmoderne Bauwerke von Architekten wie Ricardo Bofill und Manolo Nuñez. Eine ausgeklügelte Straßenführung mit für Busse und Fahrräder reservierten Fahrspuren sollte für einen effizienten Verkehrsfluss sorgen.

Die beteiligten Urbanisten und Architekten sahen sich in der Rolle von Pionieren, die neue Lebensräume auf den bislang kaum besiedelten, überwiegend von der Landwirtschaft genutzten Höhenrücken aufbauen durften. "Wir befanden uns noch in den Träumereien der Widerstandskämpfer nach dem Krieg und hatten starke Ambitionen für eine bessere Stadtentwicklung in einem zu zentralisierten Frankreich", erinnert sich André Darmagnac, einer der Städteplaner. Architektur-Studenten aus der ganzen Welt kamen, um sich die innovativen Ideen anzusehen. Aber konnte die Utopie in die Realität umgesetzt werden? 50 Jahre später ist der Erfolg der künstlichen Städte nicht unumstritten. "Es ist gelungen und misslungen zugleich", fasst Franck Senaud diese Zweischneidigkeit zusammen.

Er gehört dem Verein "Erinnerungen und Zukunft der Ville nouvelle" von Évry an und nennt sich einen "Évry-philen" - einen überzeugten Liebhaber der Stadt, in deren Nähe er aufgewachsen ist und die er sich bewusst zum Lebensmittelpunkt gewählt hat.

42 Jahre ist er alt - genauso wie Évry, das 53.000 Einwohner zählt. Angenehm seien die moderne Verkehrsführung und die hohe Lebensqualität in den Gebäuden: "Sie wurden nicht sehr hoch gebaut, damit sie die Bäume nicht überragen und die Bewohner stets das Gefühl haben, im Grünen zu sein." Auch wurde das Ziel zwar erreicht, urbane Arbeitszentren abseits von Paris zu schaffen. Doch mit ihnen wollte man eigentlich verhindern, dass die Menschen jeden Tag mit dem Auto über die ohnehin überlasteten Straßen oder mit den überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln in die Hauptstadt und zurück fahren müssen. Das ist trotzdem der Fall. "Es gibt Arbeit, aber nicht für die Menschen vor Ort: 80 Prozent der in Évry Beschäftigten kommen morgens und fahren abends wieder. Sie leben hier nicht", berichtet Senaud.

In Évry sei alles vorhanden, was man zum Leben braucht: Es gibt Kindergärten und Schulen, Sport- und Freizeitangebote, ein lebendiges Vereinsleben, die Nähe zur Natur und gleichzeitig zu Paris. Trotzdem zog die Mittelschicht in den 80er Jahren aus den Villes nouvelles weg, deren Ruf sich verschlechterte. Die Städte verarmten, die Kriminalität stieg. "Sie waren verpflichtet, einen hohen Anteil Sozialwohnungen zu bauen, und so wuchs das soziale Ungleichgewicht", erklärt Senaud. Heute zahlen nur 55 Prozent der Einwohner von Évry Steuern. Es herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, da es zwar ausreichend Jobs gibt - aber nicht genug Qualifizierte.

Nach ethnischen Kriterien verteilt

Die größte Herausforderung bestehe in der sozialen Durchmischung, sagt der Bürgermeister von Évry, Francis Chouat: "Man muss heute die Fehler der Vergangenheit reparieren: Die Bevölkerung darf nicht nach sozialen oder noch schlimmer, nach ethnischen Kriterien verteilt werden." Renovierungsarbeiten sind im Gang, allmählich verbessere sich das Image der Stadt. Mit einem Altersdurchschnitt von 25 Jahren verfügt Évry über viel Jugend, ein Potenzial. Urbanist André Darmagnac sieht aber auch die Entwicklung der modernen Gesellschaft als mitverantwortlich dafür, dass die Idee einer x-förmigen Stadt mit einem lebendigen Zentrum, das alle Bewohner zusammenbringt, nicht funktioniert hat. Der wachsende Individualismus vertrage sich nicht mit der Philosophie des Projektes, sagt er: "Heute steht man ständig in Kontakt mit der ganzen Welt - aber mit seinen Nachbarn nebenan redet man nicht mehr."

Was in Évry fehlt, so Franck Senaud, sei eine starke kulturelle Dynamik und ein Angebot mit Bezug zur Stadt selbst, so wie es Saint-Quentin-en-Yvelines vormache: Die "Ville nouvelle" im Südwesten von Paris verfügt über ein eigenes Museum, das den eigenen Bewohnern und Besuchern von außen die Geschichte der Stadt erklärt, ihre Entstehung, ihre Besonderheiten. Stolz ist sie auf das vom Kulturministerium verliehene Label einer "Stadt der Kunst und der Geschichte" - das sonst vor allem Orte mit langer Historie erhalten. Diese Auszeichnung haben in Frankreich nur vier Prozent der im 20. Jahrhundert errichteten Gebäude erhalten, heißt es auf der Homepage des Museums. "Die Anerkennung von Saint-Quentin-en-Yvelines markiert eine weitere Etappe für die Wertschätzung der Villes nouvelles, ein starkes Signal für die zeitgenössische Schöpfung."

Der Vergleich zeigt die unterschiedliche Entwicklung der fünf Planstädte um Paris. So hat sich Saint-Quentin-en-Yvelines weitaus stärker als Évry zu einem attraktiven ökonomischen Zentrum entwickelt, wo mehr als 7000 Firmen ihren Geschäftssitz haben und es neben großen Unternehmen wie Renault, Thales und EADS auch zahlreiche kleine und mittelständische Betriebe gibt sowie eine Reihe Forschungszentren.

So befindet sich hier ein Teil der Universität Versailles-Saint-Quentin-en-Yvelines sowie des Forschungs-Clusters Paris-Saclay. 2004 wurden sieben Städte in der nahen Umgebung angegliedert, sodass es sich mit insgesamt mehr als 145.000 Einwohnern tatsächlich um ein regionales Zentrum handelt, wie es ursprünglich für die "Ville nouvelle" angedacht war. Und kommen auch viele der Beschäftigten aus dem Großraum Paris, so lebt mehr als jeder Dritte im Ballungsraum Saint-Quentin-en Yvelines - anders als in Évry liegt dort die Arbeitslosenquote mit 7,5 Prozent deutlich unter dem Landesdurchschnitt mit Folgen für das soziale Klima.

Franck Senaud glaubt allerdings, dass auch in seiner Stadt die Architekten von damals noch recht bekommen: "Sie waren wohl ihrer Zeit voraus." Die Gestaltung grüner Innenstädte mit einem echten Kern treffe heute einen Nerv. Er selbst, ein Künstler, wohne im Viertel "Pyramiden", das architektonisch innovativ sei, aber unter einem Sicherheitsproblem leide. "Es ist ein toller, inspirierender Ort. Meine Fenster sind sechs Meter hoch. Die Künstler sind immer die Ersten, die in alternativen Vierteln ankommen, dann folgt die Mittelschicht." Und das hieße, die Idee der Villes nouvelles ginge doch noch auf.