Alpbach. Rentner, die einst der Mittelschicht angehörten und heute in Mistkübeln nach Essen wühlen. Ein kollabiertes Gesundheitssystem, eine um 43 Prozent gestiegene Säuglingssterblichkeit: Nirgendwo sonst treten in Europa die Auswirkungen der Krise so drastisch in Erscheinung wie in Griechenland.

Es hat sich herumgesprochen, dass das griechische Desaster auch als direkte Folge der weltweiten Finanzkrise von 2007 zu verstehen ist. Wovor allerdings viele noch die Augen verschließen: In ganz Europa wird die Krise den Mittelstand treffen. Und es wird nicht etwa plötzlich geschehen, sondern schleichend. Die Reicheren werden reicher werden und die Ärmeren ärmer.

Die zündende Idee zur Gründung des WU-Instituts "Economics of Inequality" hatten Stefan Humer (l.) und Mathias Moser (r.) - © Blatakes
Die zündende Idee zur Gründung des WU-Instituts "Economics of Inequality" hatten Stefan Humer (l.) und Mathias Moser (r.) - © Blatakes

Volkswirt Mathias Moser erklärt: "Kapitaleinkommen brechen in Finanzkrisen zwar kurz ein, erholen sich dann aber sofort wieder. Bei Löhnen ist der Effekt langfristig, sie sinken graduell." Der junge Wissenschafter widmet sich einem Thema, das wie ein alter Hut der Linken klingt, in Wahrheit aber lange Zeit kaum akademische und mediale Beachtung fand: die ökonomische Ungleichheit.

Nicht jeder bekommt,
was er verdient

Während die Haushaltseinkommen von Privatpersonen in den Jahren vor der Krise leicht, aber stetig wuchsen, sieht es heute anders aus: Die reichsten zehn Prozent der Haushalte haben heute ein siebenmal höheres Durchschnittseinkommen als jene der ärmsten zehn Prozent. Der Gini-Koeffizient, eine Maßzahl für Ungleichheit, steigt in den meisten westlichen Gesellschaften.

"In unserer Gesellschaft gab es lange einen Glaubenssatz in Bezug auf unsere Volkswirtschaft: Jeder bekommt, was er verdient. Heute sehen wir, dass ein unglaubliches Machtungleichgewicht herrscht. Es bekommt eben nicht jeder, was er verdient, sondern die Eliten bekommen das meiste und immer mehr", sagt sein Kollege Stefan Humer.

Für Mathias Moser war es an der Zeit, den Anstoß für ein Institut zu geben, das sich objektiv und fachübergreifend der ungleichen Verteilung von Wohlstand widmen soll. Die Idee entstand bei einem Bier mit einem Kollegen und sei vom Rektorat der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) mit Wohlwollen und Entgegenkommen aufgenommen worden. Dies sei auch eine Folge der gesellschaftlichen Brisanz des Themas. Gemeinsam mit seinem Kollegen Stefan Humer beschäftigt er sich schon seit vielen Jahren mit der Ungleichheit in Österreich und auf globaler Ebene.

Nun werden die beiden Wissenschaftler Mitarbeiter des neuen Instituts namens "Economics of Inequality" (Institut für Verteilungsfragen), das am 18. September ab 14 Uhr im Festsaal 2 der WU mit einer Rede von Ungleichheits-Doyen Sir Tony Atkinson offiziell eröffnet wird.

Es ist kein Zufall, dass ein thematisch so eng gefasstes Forschungsinstitut gerade jetzt aus der Taufe gehoben wird. Ungleichheit ist spätestens seit dem im vergangenen Jahr erschienenen Bestseller "Das Kapital im 21. Jahrhundert" des französischen Vorzeige-Ökonomen Thomas Piketty in aller Munde.

Anstoß zur Debatte kam
von Piketty und Saez

In den Wirtschaftswissenschaften hat es dagegen schon sehr viel früher zu brodeln begonnen. Am Anfang stand ein Beitrag, der 2003 im angesehenen US-amerikanischen Fachjournal "Quarterly Journal of Economics" erschien. Geschrieben war er von Thomas Piketty und seinem Kollegen Emmanuel Saez. Der mit "Income Inequality in the United States, 1913-1998" betitelte Aufsatz thematisierte das rasant gestiegene Ungleichgewicht in den USA. Piketty und Saez konnten darin zeigen, dass die Spitzensteuersätze in den USA sukzessive und sehr wesentlich reduziert worden waren. Die Folge: Die berühmte Schere zwischen Arm und Reich ging immer weiter auseinander, die Ungleichheit nahm extrem zu. "Das war das erste große Ausrufezeichen", sagt Volkswirt Humer.

Piketty und Saez lösten damit in den bislang eher an Wachstum und Handel interessierten Wirtschaftswissenschaften einen regelrechten Boom der Ungleichheitsforschung aus. Doch Anfang dieses Jahrtausends blieb die Diskussion noch weitgehend auf akademische Zirkel beschränkt. Erst im Zuge der weltweiten Finanzkrise ab 2007 erreichte das Thema den Mainstream.

"Ungleichheit wurde plötzlich spürbarer, Verteilungskonflikte traten deutlicher zutage und die Gesellschaft polarisierte sich", sagt Humer. Die internationalen Top-Universitäten wie Stanford, Harvard oder die London School of Economics verfügen bereits über Abteilungen und Institute, die sich dezidiert Fragen der Verteilung widmen. Nun zieht die WU nach.

Mathias Moser sagt: "Der Fokus der ökonomischen Forschung hat sich bedeutend verbreitert. Davor war Ungleichheit lange Zeit nicht nur ein Nicht-Thema, sie wurde aktiv ignoriert. Für uns ist die gesellschaftliche Relevanz unserer Forschungsfragen zentral. Wir werden mit öffentlichen Geldern bezahlt, haben also auch einen öffentlichen Auftrag."

Kapitaleinkommen zwischen 1992 und 2010 unbekannt

Moser und Humer befassten sich in den vergangenen Jahren mit einer breit angelegten Studie, die die Vermögensverteilung in Österreich seit der Monarchie offenlegen sollte. Leichter gesagt als getan. Die erschreckende Erkenntnis: Die Datenlage sei zu monarchischen Zeiten besser und transparenter gewesen als heute, sagen die Forscher. Wochenlang arbeiteten sie in Archiven und Kellern. Ein erstes Problem seien die Daten der Nachkriegszeit, denn die Einnahmen aus selbständiger und unselbständiger Arbeit wurden getrennt gesammelt und integrierte Statistiken haben laut den Forschern nur wenig Aussagekraft.