Wien. Ein Forschungsinstitut zu gründen, das sich mit Ungleichheit beschäftigt, ist nicht alltäglich. Es zeugt von Weitsicht, Empathie für Benachteiligte, aber auch von der Einsicht in die Notwendigkeit, Ungleichheitsforschung über ideologische Grenzen hinaus voranzutreiben. Denn wir brauchen seriöse Antworten auf drängende Probleme unserer Zeit. Die steigende Ungleichheit ist ein zentraler Teil davon.

Die OECD hat in ihrer jüngsten Studie zur Ungleichheit festgestellt, dass der starke Anstieg der Einkommensungleichheit in den letzten drei Jahrzehnten nicht nur den sozialen Zusammenhalt gefährdet, sondern sich auch negativ auf das langfristige Wirtschaftswachstum auswirkt. Die Diskussion über den Anstieg der Ungleichheit und seine sozialen Auswirkungen hat längst breite Teile der Bevölkerung erfasst.

Der Kampf für eine gerechte Verteilung ist nicht nur ein moralisches Anliegen, sondern essenziell für Demokratie, für eine gerechte Wirtschaftsordnung und - was mir ganz besonders wichtig erscheint - für ein soziales und stabiles Europa.

In Österreich sind 1,2 Millionen Menschen, das sind 14 Prozent der Bevölkerung, von Armut betroffen. Frauen, Kinder, Migrantinnen und Migranten sowie Langzeitarbeitslose tragen ein überdurchschnittliches Armutsrisiko. Die Ursachen der Frauenarmut sind vielfältig und reichen von schlechteren Bildungsmöglichkeiten über unzureichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten bis zur Pflegenotwendigkeit für Familienangehörige und erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt. Kinder aus armutsgefährdeten Familien besuchen öfter eine Haupt- oder Sonderschule, und nur wenige Eltern können sich für ihren Nachwuchs einen Studienabschluss vorstellen und leisten. Und so wird Armut auch sehr häufig weiter vererbt. Arme haben die schlechtesten Jobs, die geringsten Einkommen, die kleinsten und lautesten Wohnungen in den schlechtesten Vierteln, sie sind öfter krank und sterben im Schnitt sieben Jahre früher.

Vier Thesen erscheinen mir als zentral für die gesellschaftliche Relevanz von Ungleichheit.

Über Armut wissen wir tatsächlich sehr viel, mehr als über Reichtum. Aber Armut ist nicht primär individuell verschuldet. Armut hat strukturelle Ursachen, in einem Bildungssystem, das soziale Benachteiligungen nicht ausreichend ausgleicht, in einem Arbeitsmarkt, der gering Qualifizierten weniger Möglichkeiten bietet, und, nicht zuletzt, in der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen. Erst eine gesamthafte Betrachtung der Verteilung zwischen unten und oben erlaubt Aussagen zur Ungleichheit in der Gesellschaft.

Es ist dem Engagement einzelner Ökonominnen und Ökonomen in der Oesterreichischen Nationalbank zu verdanken, dass erstmals auf methodisch solidem Niveau gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank Daten zur Vermögensverteilung in Österreich erhoben wurden. Danach vereinen die obersten 10 Prozent über 60 Prozent des Vermögens auf sich, während die untersten 40 Prozent weniger als 1 Prozent der Vermögen besitzen. Wir müssen uns fragen: Wie lange kann ein Gemeinwesen, das auf Solidarität und Gerechtigkeit baut, dies durchhalten, ohne Schaden zu erleiden?

Die beiden britischen Sozialwissenschafter/innen Richard Wilkinson und Kate Pickett haben eindrucksvoll belegt, dass Ungleichheit auch die gesellschaftlichen Probleme vergrößert. Staaten mit hoher Ungleichheit stehen bezüglich Kriminalität, Gewalt, Drogenmissbrauch, Schwangerschaften im Kindesalter, Gesundheit, Bildungsstand oder Lebenserwartung schlechter da.

Durch die Finanzkrise sind unsere Gesellschaften vielfach härter und unsozialer geworden. Es muss daher wissenschaftlich untersucht werden, wie der verschwenderische Reichtum Weniger, den es zweifellos nach wie vor gibt, helfen kann, die sozialen Probleme der Vielen zu lindern.

In Österreich wäre ohne einen Sozialstaat fast die Hälfte der Bevölkerung (45 Prozent) statt tatsächlich 14 Prozent armutsgefährdet. Die staatlichen Transfers verringern also die Zahl der armutsgefährdeten Menschen von rund 3,7 Millionen auf 1,2 Millionen. Unser Sozialstaat wirkt also: Arbeitslosen-, Familien- und Sozialhilfeleistungen, aber auch das öffentliche Gesundheits- und Bildungssystem federn die ungleiche Verteilung ab, die der Markt laufend produziert.

Allerdings wird die Verteilung der Marktlöhne laufend ungleicher. 5 Prozent aller Erwerbstätigen verdienen trotz Erwerbsarbeit so wenig, dass sie von ihrem Erwerbseinkommen nicht leben können. Zudem wurden in den letzten Jahrzehnten auch zunehmend Einkommen aus Finanzanlagen lukriert, die - trotz Finanzkrise - zusammen mit den (unversteuerten) Erbschaften die Einkommens- und Vermögensungleichheit stark ansteigen ließen. All das stellt eigentlich den Grundgedanken einer "Leistungsgesellschaft" - also eines Gesellschaftssystems, das Leistungen angemessen belohnt - in Frage.

Die ungleiche Primärverteilung des Marktes wird auch dem Gerechtigkeitspostulat immer weniger gerecht. Der Sozialstaat und die Wirtschaftspolitik sind daher ganz besonders gefordert. In diesem Zusammenhang möchte ich betonen, dass das Sozialsystem nicht nur Kostenfaktor, sondern auch gesellschaftliche Produktivkraft ist. Sozialstaatliche Absicherung erhöht das Vertrauen in die Institutionen, begünstigt Konsens und Stabilität, reduziert Unsicherheiten und fördert somit den privaten Konsum und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen.