Wien. Von allen Bahnhöfen Wiens ist er der Unscheinbarste. Der Vergessene. Und das, obwohl am Nordwestbahnhof auch Skispringer hüpften und Skifahrer kurvten und obwohl er als Schauplatz scheußlicher Ereignisse in Österreichs Zeitgeschichte einging.
Geblieben ist auf dem 44 Hektar großen Areal der Güterbahnhof der ÖBB, in den 1970er Jahren modernisiert und heute noch in Betrieb. Doch seine Tage sind gezählt, da er in wenigen Jahren endgültig nach Inzersdorf abgesiedelt sein soll. Bis 2025 soll auf dem Areal des 1873 errichteten Bahnhofs ein neuer Stadtteil entstehen. Das Leitbild dazu wurde im Jahr 2009 fertiggestellt. Demnach werden auf den 44 Hektar rund 5000 Arbeitsplätze entstehen und Wohnungen für rund 12.000 Menschen gebaut werden, die größte vorgesehene Gebäudehöhe soll 80 Meter betragen.
Es soll ein Stadtteil ohne Durchzugsverkehr werden, mit einem langgezogenen Park quer durch und einem Radweg auf der ehemaligen Bahntrasse. Außerdem sind rund zehn Hektar des Gesamtgebiets als öffentlicher Grünraum eingeplant. Allerdings haben sich seit 2008 die Rahmenbedingungen geändert: Der Trend, dass Wien rasant wächst, hält an, der Bedarf an Schulen und Kindergärten hat zugenommen. Deshalb seien mittlerweile mehr Wohnungen vorgesehen als noch 2008, heißt es aus der Magistratsabteilung 21, zuständig für Stadtteilplanung und Flächennutzung.

Und da die Bezirksvorsteher des 2. und 20. Bezirks eine neue Straßenbahn durch ihre Bezirke erwägen, sei eine andere Streckenführung nötig. Im Großen und Ganzen bleibe das alte Leitbild jedoch aufrecht.
Doch dieses ist nicht ganz zum Wohlwollen der Anrainer. Im Zuge eines Bürgerbeteiligungsverfahrens wurde 2008 im Endbericht festgehalten, dass zu viele Hochhäuser vorgesehen seien und zu altmodisch geplant werde. Andere wiederum beklagen die Phantasielosigkeit bei der Planung, vor allem, dass mit dem Abriss des Bahnhofs und seinen zum Teil alten Gebäuden auch die besondere Atmosphäre des Bezirks verloren ginge. Doch bevor es zu einem Verkauf des Areals an mindestens zehn Bauträger kommen wird, müssen die ÖBB als Eigentümer des Bahnhofs das Areal noch auf Kontaminierung untersuchen und Verdachtspunkte aus dem Bombenkataster überprüfen lassen.
Bis heute werden historische Bahnhöfe im stadtgeschichtlichen und denkmalpflegerischen Diskurs kaum thematisiert. Hinzu kommt, dass die Zerstörung von Gebäuden und der Mangel an Quellen große Lücken in der Überlieferung überlassen haben. Und wahrscheinlich ist die Tatsache, dass die Geschichte der Eisenbahn meist auf die Faszination von Lokomotiven fokussiert ist, auch mit ein Grund dafür, dass am Nordwestbahnhof die letzten architektonischen Reste dieses Gründerzeitbahnhofs fast unbemerkt so lang vor sich hin schlummern konnten.
Das alte Amtspostgebäude ist wohl das bekannteste noch bestehende Relikt der Gründerzeitbahnhöfe, daneben gibt es noch weitere, bis heute erhaltene Bauten von damals: darunter die zwei langgezogenen, zwischen 1870 und 1873 errichtete und unterkellerte Backsteinbauten. Einer davon, in der Mitte von Gleisen durchzogen, wird als Umladerampe genutzt, ein anderer beherbergt das beeindruckende Filmrequisitenlager des Vereins props.co. Diese zugleich bedeutende Sammlung von Objekten der österreichischen Zeit- und Alltagsgeschichte muss sich um eine neue Bleibe umsehen, denn in die Baupläne des künftigen Areals wurde sie bisher nicht miteinbezogen. Ein schwieriges Unterfangen, denn die unzähligen Raritäten und Gebrauchsgegenstände sind auf drei Etagen auf insgesamt rund 3000 Quadratmeter untergebracht - die "Wiener Zeitung" hat berichtet.
Andere Gebäude, etwas später, also Ende des 19. Jahrhundert, errichtet, sind ebenso noch erhalten, auch sie sind stille Protagonisten einer langen Geschichte.
Bisher steht fest, dass nicht nur das alte Postgebäude vor einem Abriss verschont und in die Neugestaltung des Areals einbezogen wird: Daneben soll "zumindest einer dieser Backsteinbauten erhalten bleiben, als schönes Signal für die Identität des Ortes", heißt es seitens der MA 21.
Was aus dem anderen langgezogenem Ziegelsteinbau aus der Gründerzeit geschehen wird, weiß man noch nicht. Man sei gerade dabei, sich das nochmal anzusehen. Vielleicht lasse man drei Viertel oder die Hälfte davon über. Wichtig sei, dass er bei der Neugestaltung des Areals nicht im Weg stehen wird.
Mitten im Hochwassergebiet
Gerade rechtzeitig zur Weltausstellung 1873 fertiggestellt, war der Nordwestbahnhof der letzte der sechs neu errichteten Fernbahnhöfe in Wien: Neben den Nachfolgebauten des Nord-, Süd-, und Ostbahnhofs wurden drei neue gebaut: Der West-, Franz-Josefs- und der Nordwestbahnhof. Und wie die vier anderen, wurde auch er nach einer Himmelsrichtung benannt.
Doch damit der Bahnhof überhaupt gebaut werden konnte, musste wie beim benachbarten Nordbahnhof auch die tiefe Lage im Hochwassergebiet aufgeschüttet werden. An die 1,5 Millionen Kubikmeter Erdreich wurde binnen 30 Monaten aus Heiligenstadt auf einer eigens dafür verlegten Bahn in die Brigittenau transportiert.