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Wichtig, aber nicht allein entscheidend

Von Alexander Maurer

Politik
Im Kindergarten wird laut Experten nicht nur Denken und Sprache, sondern auch das Zusammenleben der Kinder gefördert.
© Jenis

Der Kindergarten stellt für Heranwachsende eine wichtige Entwicklungshilfe dar, kann aber das Elternhaus nicht ersetzen.


Wien. Die Aufregung um eine Vorstudie über islamische Kindergärten in Wien hat nun dazu geführt, dass sich Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP) heute, Donnerstag, mit den Stadträtinnen Sonja Wehsely und Sandra Frauenberger (beide SPÖ) zu Gesprächen trifft. Einige der Trägervereine der untersuchten Einrichtungen stünden im Verdacht, extremistische Gruppierungen als Hintermänner zu haben.

Die Vorstudie schlug politisch Wellen. Wiens SPÖ unterstellte Kurz, es vor allem auf Schlagzeilen abgesehen zu haben. Entsprechend forderte Andreas Schieder, SPÖ-Klubobmann im Nationalrat den Integrationsminister auf, konkrete Fakten zu nennen, welche Einrichtungen vom Extremismus-Vorwurf betroffen seien. Sollten sich dann die behaupteten Verdachtsmomente tatsächlich bestätigen, ist dann aber auch Schieder für eine Schließung der betreffenden Einrichtungen. Ähnlich der Tenor aus dem SPÖ-geführten Rathaus.

Forderung nachmehr Kontrollen

Wie Kurz plädiert auch Raphaela Keller, die Vorsitzende der Wiener Berufsgruppe der Kindergarten- und HortpädagogInnen, gegenüber der "Wiener Zeitung" für stärkere Kontrollen der Kindergärten. "Diese sollen vor allem von Menschen durchgeführt werden, die die Haupsprache der jeweiligen Einrichtung beherrschen", fügt sie hinzu. Es sei auch wichtig, dass in den Einrichtungen Deutsch vermittelt werde, da dies für das weitere gemeinsame Zusammenleben, das der Kindergarten fördere, wichtig sei.

Welche Rolle spielt überhaupt der Kindergarten? Dass der Kindergarten vor allem in der frühkindlichen Entwicklung einen hohen Stellenwert hat, bestätigt Birgit Hartel, wissenschaftliche Leiterin des Charlotte Bühler Instituts für praxisorientierte Kleinkindforschung. Dabei gehe es vor allem um die Denkfähigkeit und das Sprachvermögen, "aber auch die mathematische Frühentwicklung gehört dazu. Dort bietet der Kindergarten manchmal doch mehr und systematischer Anreize, als das in den Elternhäusern möglich ist", erklärt Hartel.

Der Besuch der Betreuungseinrichtung mache sich aber auch in der Sozialentwicklung bemerkbar. Die Kinder seien in der Regel durchsetzungsfähiger und selbstbewusster. "Das ist insofern nachvollziehbar, als Kinder im Kindergarten vermehrt mit Gleichaltrigen zu tun haben, auf die sie sich einlassen müssen, mit denen sie aber auch Kontakte knüpfen und Freundschaften bilden können. Hier lernen sie zudem, ihre Bedürfnisse ihnen gegenüber zu artikulieren", meint die Expertin.

Kinder würden von der frühen Betreuung in allen Entwicklungsbereichen profitieren, ist Hartel überzeugt. So würde auch ein demokratisches Weltbild im Kindergarten gefördert. "Das beginnt schon bei kleinen Entscheidungen wie ,Was möchte ich heute mit wem spielen?‘ Das schult die Entscheidungsfähigkeit und vermittelt den Kindern auch, dass ihre eigene Meinung wichtig ist. Das ist für das spätere Leben bedeutend - man geht ja unter anderem zur Wahl, weil man meint, die eigene Stimme habe Gewicht."

Die entwicklungsfördernde Wirkung des Kindergartens unterliege jedoch zwei Einschränkungen, gibt die Expertin zu bedenken: Erstens käme es stark auf die Qualität des Kindergartens an - "das ist eine unumstößliche Wahrheit. Man weiß, dass die Qualität des Kindergartens Entwicklungsunterschiede von bis zu einem Jahr bei den Kindern hervorrufen kann. Bei Drei- bis Sechsjährigen entscheidet das beispielsweise über die Schulfähigkeit", so Hartel. Die Ausbildung der Pädagogen spiele eine große Rolle. "Und da sind wir in Europa mit der Bakip-Ausbildung Schlusslicht. Sie ist das größte Qualitätsmanko, das wir hierzulande haben." Und ein weiteres strukturelles Problem sei die Gruppengröße. Hortpädagogin Raphaela Keller kann da nur zustimmen: "Wir brauchen kleinere Gruppengrößen, sonst können wir uns nicht jedem Kind so individuell zuwenden, wie es sein soll."

Elternhaus isteinflussreicher

Zweitens sei die Wichtigkeit des Elternhauses nicht zu unterschätzen, erklärt Forscherin Birgit Hartel. "Über viele Studien hinweg zeigt sich, dass sich die Familie als bis zu zwei Drittel einflussreicher auf die kindliche Entwicklung erwiesen hat, und das betrifft nicht nur den Kindergarten, sondern auch die Schule." Persönlichkeitsentwicklung etwa werde fast ausschließlich innerhalb der Familie beeinflusst, ebenso Lernmotivation und Leistungsfreude. Aber auch Verhaltensauffälligkeit bei Kindern sei vorrangig auf das Elternhaus zurückzuführen. "Man darf nicht erwarten, dass der Kindergarten, noch dazu unter solch ungünstigen Bedingungen wie hierzulande, alles kompensieren kann, was aus der Familie kommt. Das ist schlichtweg unmöglich", gibt Hartel zu bedenken.

Daraus ergibt sich: Selbst die Beseitigung allfälliger Missstände im Kindergartenbereich, etwa wenn die Betreiber über einen islamistischen Hintergrund verfügen sollten, löst längst nicht alle Probleme.