
Sonntagabend beginnt im jüdischen Kalender das Jahr 5777. Für die Wiener jüdische Gemeinde werden es besondere Hohe Feiertage, wie man die Zeit zwischen Rosch HaSchana, dem jüdischen Neujahr, und Jom Kippur, dem Versöhnungstag, auch nennt: erstmals werden sie vom neuen Oberrabbiner Arie Folger zelebriert. Was daran anders werden wird? "Man wird über den Rabbiner richten", sagt er im Gespräch mit der Wiener Zeitung schmunzelnd. "Die Leute werden sagen, was sie über mich denken. Das ist ganz natürlich."
Wobei das Richten durchaus mit dem jüdischen Neujahr in Verbindung steht: anders als Silvester, das feuchtfröhlich mit Feuerwerk und Partys begrüßt wird, ist Rosch HaSchana ein ernstes Fest. "Man könnte es auch als Krönungstag Gottes bezeichnen", sagt der neue Oberrabbiner. "Wir erneuern die Akzeptanz Gottes als unser König. Wir verkünden, dass er der ultimative Herrscher ist – wir können uns das so vorstellen wie eine Audienz bei Gott. Da besteht auf der einen Seite eine große Nähe, auf der anderen Seite die Möglichkeit, sich etwas Gutes zu erbitten."
Zu Rosch HaSchana beurteilt der Schöpfer, wieviel Gutes, wieviel Schlechtes ein Mensch im zu Ende gegangenen Jahr vorzuweisen hat. Und der Mensch bittet Gott um Vergebung. Vieles, was schlecht gelaufen ist, hat allerdings auch mit anderen Menschen zu tun: sie müssen zuerst um Verzeihung gebeten werden, bevor Gott schließlich am Versöhnungstag seine Absolution erteilen kann. Das Verzeihen wurde über die Jahre ritualisiert. So ist es inzwischen in vielen Synagogen Brauch, dass jeder bei jedem um Verzeihung bittet, unabhängig davon, ob man dem anderen etwas angetan hat oder nicht.
Und das sei gut so, meint der neue Oberrabbiner. "Es gibt immer wieder Situationen, in denen man sich scheut, sich zu entschuldigen, oder wo Menschen nicht bereit sind, die Entschuldigung zu akzeptieren. Und da sorgt diese Ritualisierung, diese Institutionalisierung dafür, dass man einerseits seine Entschuldigung anbietet – und sie andererseits auch akzeptiert wird." Zweiteres ist ebenso wichtig, denn, betont Folger: "Warum soll uns Gott verzeihen, wenn wir nicht bereit sind, Menschen zu verzeihen?"
Die Hohen Feiertage sind zudem jene Zeit im Jahr, wo die Synagoge auch von während des Jahres nicht so observanten Jüdinnen und Juden besucht wird. Das ist also auch für einen Rabbiner eine gute Möglichkeit, seine Botschaften an besonders viele Menschen zu richten. Wie auch schon sein Vorgänger als Oberrabbiner Wiens, Paul Chaim Eisenberg, wird Arie Folger dabei durchaus auch politische Themen ansprechen. Wobei er betont: im Vordergrund müssten immer die religiösen Inhalte stehen. Und: wenn er als Rabbiner in der Synagoge zu politischen Themen spreche, dann könne es nicht um konkrete Fragestellungen gehen, wie zum Beispiel: wie viele Flüchtlinge genau soll/kann Österreich aufnehmen?
"Religion hat die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen. Zum Beispiel: Man soll Flüchtlinge aufnehmen. Oder man muss das nicht tun, je nachdem welche politische Meinung man aus religiöser Überzeugung vertreten möchte. Aber innerhalb dieses Rahmens gibt es eine gewisse Freiheit, in der sich die Leute – also die Gemeindemitglieder – entscheiden können." Und Religion liefere den Menschen Inspiration: "Wenn die Leute sich überlegen, wie entscheide ich jetzt, dann ist das nicht nur auf Basis eines Bauchgefühls, sondern sie berücksichtigen auch religiöse Standpunkte."
Das politische Thema, an dem man bei diesen Hohen Feiertagen nicht vorbeikommen wird, ist die – inzwischen auf 4. Dezember verschobene – Wiederholung der Bundespräsidentenwahl. "Da soll man nicht ausweichen", betont auch Oberrabbiner Folger. Zweierlei will er dabei ansprechen: einerseits all die Unsicherheiten rund um diese Wahl, die bei vielen Menschen zu Verunsicherungen geführt hätten. Und andererseits die Polarisierung, welche diese Wahl noch weiter verstärken werde.
Die fortschreitende Polarisierung – nicht nur in Österreich, in ganz Europa – bereite ihm grundsätzlich Sorge, betont er. "Das ist ein Riesenproblem." Die Gründe seien auf verschiedenen Ebenen zu suchen: da sei zum einen der Tunnelblick, der durch die sozialen Medien entstünde. "Die Leute sehen nur mehr die Nachrichten, die sie wollen." Dazu trügen auch die vielen alternativen Medien im Internet bei, die vieles böten, was von Mainstream-Medien nicht berichtet würde. Das sei manches Mal legitim, manches Mal aber von Verschwörungsszenarien geprägt. "Je mehr ich aber nur mehr meine eigene Meinung höre und lese, je weniger verstehe ich, dass ich im Gespräch mit einer Gesellschaft bin. Und das wiederum bedingt, Kompromisse einzugehen. Das fehlt mir immer mehr. Wir sprechen aneinander vorbei – auf der politischen Ebene, aber auch auf der religiösen Ebene."
Aber nicht nur die Technologie, die eine so starke Personalisierung ermögliche, trage zur Polarisierung bei. Große Teile Europas seien seit Jahrzehnten von Krieg verschont. Damit habe man überhaupt erst die Möglichkeit, sich derart stark mit sich selbst auseinander zu setzen. "Das trägt zur fortschreitenden Individualisierung bei – und wir spüren das Elend des Fremden nicht mehr."
Die fast 50 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die bei der Stichwahl zwischen dem Freiheitlichen Norbert Hofer und dem Grünen Alexander Van der Bellen im Mai für Hofer votiert haben (die Wahl wird nun wiederholt), seien nicht alle Rechtspopulisten, ist Oberrabbiner Folger überzeugt. Das Wahlverhalten sei vielmehr Ausdruck und Ursache der Polarisierung: "Die Menschen fühlen sich nicht mehr mit den anderen politischen Parteien im Gespräch." Im Gegenzug hätten viele Parteien ein bisschen das Gefühl für die Bevölkerung verloren. "Diese Verbindung zum Bürger müssen die Mainstream Parteien wiederherstellen."