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Mahnmal der Konsumgesellschaft

Von Reinhard Seiß

Politik
© Reinhard Seiß

Am 8. Dezember feiern viele statt Maria Empfängnis den "Tag des Einkaufs": An Bewusstsein für die ruinösen Folgen unseres Way of Life fehlt es selbst nach 40 Jahren SCS noch.


Wien. "Wien und die Shopping City Süd. Das ist wie Nordpol und Südpol, wie Fred Astaire und Ginger Rogers, wie Alpha und Omega. In ihren Einkaufs- und Lebensgewohnheiten sind beide Metropolen aneinander, ineinander und zueinander gewachsen. Entstanden ist dabei viel mehr als eine gewöhnliche Städtepartnerschaft - entstanden ist eine interurbane Liebesbeziehung." Was sich wie die Persiflage eines Super-GAUs der heimischen Raumordnung liest, nämlich der Genehmigung, Errichtung und unablässigen Weiterentwicklung von Österreichs größter Einzelhandelsagglomeration in der Wiener Speckgürtelgemeinde Vösendorf, stammt aus einem 140-seitigen Bildband, den der inzwischen verstorbene Gründer und damalige Eigentümer der Shopping City, Hans Dujsik, anlässlich des 20-jährigen Jubiläums seiner Einkaufsstadt 1996 in Auftrag gegeben hatte. Darin wird die 80 Hektar große Asphalt-, Beton- und Wellblechwüste an der Südausfahrt der Bundeshauptstadt als "faszinierender Mikrokosmos" und "urbanes Kaleidoskop" gepriesen - und mit ihrem "pulsierenden Stadtleben" als moderne, zukunftsweisende Fortschreibung des verstaubten, überkommenen Wien glorifiziert.

Natürlich war bereits in den 90er Jahren offenkundig, dass die Geschäftsstraßen Wiens oder auch die Innenstädte Mödlings, Badens und Wiener Neustadts nicht von sich aus verödeten, sondern aufgrund der übermächtigen Konkurrenz der SCS und nachfolgender Shopping Malls an der Peripherie zunehmend brachfielen. Schon damals wusste man, dass die suburbanen Einkaufs- und Fachmarktzentren samt ihrer weitläufigen Parkplätze für den enormen Bodenverbrauch und den überbordenden Autoverkehr in ganz Österreich mitverantwortlich waren. Doch konstatieren wir 20 Jahre danach sowie zahllose Nachhaltigkeits-, Boden- und Klimaschutzdeklarationen später, dass die Politik nach wie vor periphere Handelseinrichtungen genehmigt, dass die Bevölkerung weiter begeistert dorthin fährt - und die Medien, eingelullt von teuren Werbeeinschaltungen der großen Handelskonzerne, weder das eine noch das andere gebührend kritisieren, ja sich sogar in den Dienst neuer Shopping Center-Projekte stellen.

Ungeachtet aller Lippenbekenntnisse von einer nachhaltigeren Siedlungsentwicklung, einer umweltschonenderen Mobilität und einem bewussteren Konsumverhalten haben wir Österreich in den letzten beiden Jahrzehnten erst so richtig zu dem gemacht, was es heute ist: das Land mit der größten Einzelhandelsdichte der gesamten EU, in dem mehr als die Hälfte aller Verkaufsflächen nur mit dem Auto erreichbar sind.

Medien voll des Lobs

Das Gros der Gesellschaft hat die SCS und all die anderen Einkaufszentren, Fachmarktzentren oder Outlet Center bis hin zu den unzähligen Supermärkten auf der grünen Wiese längst als integralen Bestandteil ihres verschwenderischen Lebensstils akzeptiert. Daher brauchte es zum 40-jährigen Jubiläum der Shopping City diesen Herbst auch keinen weiteren Bildband mehr, um das größte Einkaufszentrum Mitteleuropas schönzureden.

Zeitungen, Zeitschriften und Radios, ja selbst der ORF boten dafür ausreichend redaktionelle Bühne: Während der Online- "Standard" seine Leser einlud, zu posten, welche persönlichen Erlebnisse aus ihrer Kindheit, ihrer Jugend oder später dann mit ihrer eigenen Familie sie mit der SCS verbinden, durfte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Center-Manager widerspruchslos Bilanz ziehen - "Die Shopping City hat sich in den 40 Jahren bewährt und ist für Niederösterreich extrem wichtig" - und dies mit 5000 Beschäftigten sowie 50 Millionen Euro an Kommunalsteuer in den letzten vier Dekaden argumentieren. Die Nachfrage des Redakteurs, wie viele Arbeitsplätze durch die SCS seit 1976 in der gesamten Ostregion verloren gingen oder was sie im Gegenzug an öffentlicher Infrastruktur - allen voran an Straßen, bis hin zu einer eigenen Autobahnabfahrt - geschenkt bekommen hat, blieb erwartungsgemäß aus.

© Reinhard Seiß

Dabei wäre allein die optische Erscheinung der Handelsagglomeration Grund genug, dass ein Volk, begnadet für das Schöne, sie meidet. Rings um die billige Trash-"Architektur" der Kaufhallen bilden kirchturmhohe Signets von Bau-, Garten-, Möbel-, Elektro- und Textilmärkten, von Lebensmittel- und Fast-Food-Ketten - mal in Form eines überdimensionalen roten Sessels, mal in Gestalt eines rotierenden gelben Plastiksackerls - im Kanon mit allgegenwärtigen Plakatwänden und Werbefahnen, mit zahllosen Straßenschildern, mit Felsbrocken, Betonklötzen, Pollern und anderem Zierrat zur Absperrung erbärmlicher Freiräume vor wild parkenden Autos sowie der unüberschaubar großen Fläche an Stellplätzen eine "Kulturlandschaft", die wie keine andere die ignorante Wegwerfmentalität unserer Zeit abbildet. Aber dennoch: "Jeder Zweite geht lieber in einem Einkaufszentrum shoppen als in einer Einkaufsstraße", zitiert ORF Niederösterreich eine "Studie" von marketagent.com und präzisiert: "Am beliebtesten ist die Shopping City Süd in Vösendorf."

Lage am Verkehrsknoten

Was zählt, ist offenbar Größe - sprich: Was man in der SCS nicht findet, findet man nirgendwo. 330 Geschäfte auf rund 250.000 Quadratmetern Verkaufsfläche erstrecken sich über eine Länge von 1,5 Kilometer und werden von 10.000 Parkplätzen für alljährlich 12 Millionen Autos mit rund 25 Millionen Besuchern gesäumt - die hier mehr als eine Milliarde Euro zurücklassen, Tendenz steigend. Denn aufgrund schier unbegrenzter Flächenreserven konnte und kann die Shopping City immer weiter prosperieren, sprich expandieren: Längst erstreckt sich die Handelsagglomeration über die Gemeindegrenze von Vösendorf hinweg nach Wiener Neudorf und Brunn am Gebirge.

© Reinhard Seiß

Was zählt, ist aber auch die Verkehrserschließung - wobei sich die SCS rühmt, unmittelbar am größten Verkehrsknoten Mitteleuropas zu liegen: Mit A2, A21, A23 und S1 treffen hier mittlerweile gleich vier Autobahnen beziehungsweise Schnellstraßen zusammen - und acht Bundesstraßen im näheren Umfeld sorgen für noch weiteren Zulauf: nicht nur aus Wien, Niederösterreich und dem Burgenland, auch aus der Steiermark, Ungarn und der Slowakei. Wie heißt es dazu in Hans Dujsiks Bildband so schön? "Wer geht heute schon noch einkaufen? Meistens fährt man doch mit dem Auto, auch wenn die nächste Geschäftsstraße nur ein paar Häuserblocks entfernt ist. Und ob man nun wenige hundert Meter oder einige Kilometer unterwegs ist, macht kaum mehr einen Unterschied."

Flächenangebot und Straßenerschließung waren für Dujsik, den selbsternannten "Pionier des Erlebniseinkaufs in Österreich", schon Anfang der 70er Jahre die ausschlaggebenden Standortfaktoren, um sein EKZ hier, auf einem aufgelassenen Lehmabbaugelände am boomenden Südrand Wiens zu entwickeln - nicht zu weit weg von den Kunden der Millionenstadt und doch in gewisser Distanz zur Konkurrenz des städtischen Einzelhandels.

Über raum- und verkehrsplanerische Belange sah das Land Niederösterreich bei der Genehmigung der SCS mit Blick auf Steuereinnahmen und Kaufkraftzuwächse großzügig hinweg. Eine spezielle Flächenwidmung für Einkaufszentren war im Raumordnungsgesetz noch nicht vorgesehen, während die wasserrechtliche Bewilligung für das Zuschütten der alten Ziegelteiche rasch über die Bühne ging. Die mediale Skepsis hielt sich schon damals in Grenzen - und in den Akten der Raumordnungsabteilung findet sich nur ein einziges Einspruchsschreiben. Dabei musste aufgrund internationaler Erfahrungen schon damals klar gewesen sein, was ein Einkaufszentrum mit anfangs 160 Geschäften auf 100.000 Quadratmeter Verkaufsfläche an Folgen nach sich zieht.

Wann immer die Planungspolitik mit Verspätung auf das unkontrollierte Handelswachstum reagierte, fanden die Macher der Shopping City Auswege, ihre Expansion fortzusetzen. So definierte die Neufassung des Niederösterreichischen Raumordnungsgesetzes von 1976 erstmals die Widmungskategorie "Bauland Einkaufszentrum" und erlaubte die Errichtung solcher Einrichtungen nur noch auf derart ausgewiesenen Flächen. Dennoch begannen bereits kurz nach Eröffnung der SCS die bis heute andauernden Erweiterungen - auf gewöhnlichem Betriebsbaugebiet: die Aufstockung des Hauptgebäudes für zusätzliche 30.000 Quadratmeter Verkaufsfläche, der Anbau für IKEA mit 20.000 Quadratmetern, die weithin sichtbare, 40 Meter hohe Glaspyramide sowie noch weitere Hallen für Marktführer der Baustoff-, Einrichtungs-, Haushaltsgeräte- oder Spielzeugbranche.

Paragrafen-Jonglieren

Dies war möglich, da das Gesetz als Einkaufszentren jene Handelsagglomerationen definierte, deren Branchenmix auch Lebensmittel umfasst. Zum Zeitpunkt der Gesetzesnovelle galten Shopping Center ohne Lebensmittelangebot noch als wirtschaftlich undenkbar. Ab Ende der 70er Jahre aber lockten bereits andere "Zubringer" wie Unterhaltungselektronik oder Autozubehör die Kunden nach Vösendorf.

Diese sogenannten Fachmärkte - ohne Lebensmittel im Sortiment - durften auch auf herkömmlichem Betriebsbauland errichtet werden. Jener Paragraf wiederum, der für die Genehmigung eines neuen Einkaufszentrums den Nachweis verlangte, dass das Shopping Center die bestehende Nahversorgung der Region nicht wesentlich beeinträchtige, wurde vom Verfassungsgerichtshof wieder aufgehoben.

"Zwischen 18 und 20 Uhr verwandeln sich die Shopper in Flaneure, und die Flaneure werden alsbald von den Nachtschwärmern abgelöst", schildert das SCS-Buch den Verlauf eines Tages in Vösendorf. Seit den 90er Jahren geht das Konsumangebot der Shopping City weit über den klassischen Handel hinaus: Freizeiteinrichtungen, Sport- und Fitness-Studios, Discos, Hotels, Konferenzräume, Restaurants sowie Filialen sämtlicher Fast Food-Ketten sorgen für Leben bis spät in die Nacht, an sieben Tagen der Woche. Hauptattraktion ist das 1994 eröffnete Multiplex, das auf 37.000 Quadratmetern neben Unterhaltung und Gastronomie auch das - mit 800.000 Besuchern pro Jahr - meistfrequentierte Kino-Center des Landes umfasst.

Diese Entwicklung wird sich weiter verstärken, zumal der boomende Online-Handel zur veritablen Konkurrenz für die Einkaufszentren geworden ist. So setzen auch die Macher in Vösendorf zunehmend auf die Aufenthaltsqualität der SCS und versuchen, ein Komplettangebot an Urban Entertainment zu bieten. Shoppen soll dabei nicht mehr als Notwendigkeit, sondern als Freizeitbeschäftigung erlebt werden, die nahtlos in andere Vergnügungen übergeht. Und je länger die Kunden in der Mall gehalten werden können, umso mehr Geld lassen sie da.

© Reinhard Seiß

Fehlt nur noch, dass man in der Shopping City Süd auch wohnen kann. Immerhin, die Häuser dafür stünden schon bereit: Rund um einen verbliebenen Ziegelteich breitet sich auf 75.000 Quadratmetern die Blaue Lagune aus - Europas größter Fertighauspark aus über 100 Musterhäusern, komplett eingerichtet, mit liebevoll gepflegten Gärten und funktionierender Straßenbeleuchtung. Wer hier sein Eigenheim kauft, kann es an jedem noch so entlegenen Ort zwölf Wochen später beziehen. Gerade genug Zeit, um nebenan die passende Einrichtung und den Zweitwagen auszusuchen.

Die SCS bietet wirklich alles für das suburbane Leben, von dem das Gros der Österreicher vor träumt. Diesen hartnäckigen Traum wahr werden zu lassen, war vermutlich Hans Dujsiks Vision, als er vor 20 Jahren in sein Buch schreiben ließ: "Die Sehnsucht nach dem Schlaraffenland besteht noch immer. Aber ihre Erfüllung ist durch die Shopping City Süd ein wenig näher gerückt."

Trittbrettfahrer

Bis heute überstrahlt die SCS die heimische Konkurrenz auf allen Ebenen. Doch ist es längst nicht mehr zulässig, ihr die Allein- oder auch nur Hauptverantwortung an der Misere der traditionellen Geschäftsstraßen, am Niedergang vieler Orts- und Stadtkerne der Ostregion zuzuschreiben. Ursprüngliche "Opfer" wie Wiener Neustadt sind zu "Tätern" geworden und ruinieren ihre Innenstädte höchstselbst durch eigene Einkaufszentren wie den Fischapark. Und auch das rote Wien braucht dem schwarzen Niederösterreich wegen Vösendorf nicht mehr länger gram zu sein, fand es doch einen nicht minder perfiden Weg, seine Handelsbilanz mit dem Nachbarland wieder etwas aufzubessern: In Auhof, im äußersten Westen der Stadt, direkt an der A1, entstanden seit Ende der 90er Jahre zahlreiche Fachmärkte, aber auch ein Cineplexx-Kino und standorttypische Gastronomie. Zwar liegt das Auhof Center für die meisten Wiener eher abseits, doch fahren die Pendler aus dem westlichen Niederösterreich auf ihrem Weg von und zur Arbeit direkt daran vorbei - weshalb einiges an Kaufkraft aus den Wienerwald-Gemeinden in der Bundeshauptstadt verbleibt.

Auch in rechtsstaatlicher Hinsicht sind die beiden Bundesländer in Sachen Einkaufszentren einander durchaus ebenbürtig. So konnte es in Niederösterreich "passieren", dass zwei Jahre nach Beschluss des Raumordnungsgesetzes von 2004, das neue Handelseinrichtungen nur noch in Zentrumslage erlaubte, Österreichs fünftgrößtes Einkaufszentrum auf der grünen Wiese bei Gerasdorf genehmigt, ab 2009 gebaut und 2012 eröffnet wurde. In Wien wiederum förderte ein Kontrollamtsbericht zutage, dass in den 90er Jahren 54 von insgesamt 132 in der Bundeshauptstadt entstandenen Einkaufs- und Fachmarktzentren ohne die erforderlichen Widmungen und Bewilligungen realisiert worden waren.

Das Unfassbare daran ist, dass die Baubehörde nicht nur regelmäßig beide Augen gegenüber dubiosen Bauwerbern zudrückte, sondern sogar selbst die haarsträubendsten Argumente zur Umgehung der Bauordnung ersann. Offenbar wurde Österreich schon vor geraumer Zeit und weit über Vösendorf hinaus vom "kategorischen Imperativ der SCS" erfasst, der schlicht und ergreifend lautet: "Kauf!"

Reinhard Seiß ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.