Wien. Jan Dirk Capelle schiebt seine Brille hoch und gewinnt dadurch ein paar Sekunden. Wertvolle Zeit, um ein letztes Mal durchzuatmen, bevor er im Wettlauf mit der Stoppuhr seine Wettstreiter seziert. Seelenruhig hebelt er mit seinen Argumenten die gegnerischen Standpunkte aus und entkräftet kritische Zwischenfragen. Es geht um Rechtspopulismus, Klimaschutz, Standortwettbewerb. Die Hiebe sitzen, die Scherze auch. "Wir glauben, dass die EU eine gut funktionierende Ehe sein sollte. Da sagt man, in guten wie in schlechten Zeiten stehen wir zueinander. Was diese Regierungen vorschlagen, ist Freundschaft Plus, wo man den anderen fallen lässt, sobald es unangenehm wird. Deshalb stimmt heute für die Opposition", fordert der 27-jährige Mathematikstudent seine Zuhörer auf.
Capelle ist einer von acht Debattierern, die sich am Sonntag an der Universität Wien einen finalen Ringkampf liefern. 48 Zweierteams aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sind nach Wien gereist, um ein Wochenende lang diszipliniert zu streiten - und vielleicht die studentische "Zeit-Debatte" zu gewinnen. Die deutsche Wochenzeitung sponsert das Turnier, der Debattierklub Wien organisiert es.
Wenn Capelle den Festsaal der Universität einnimmt, verlässt er sich auf seine Notizen und seine Schlagfertigkeit. Mehr hat er nicht. Das Thema der Debatte hat er 15 Minuten vor Startschuss erfahren, Stift und Papier sind die einzigen erlaubten Hilfsmittel. Das Streitthema ist komplex: Soll die EU durch eine "Pick and Choose"-Union ersetzt werden? Das heißt: Soll der EU-Beitrittsvertrag einzelnen Verträgen weichen, die jeder Mitgliedsstaat nach Belieben unterzeichnen kann? Exakt sieben Minuten hat jeder Redner Zeit, um die Jury zu überzeugen. Die Pro- und Kontrapositionen werden ausgelost. Debattierer vertreten also Positionen, die der eigenen Meinung mitunter widersprechen.
Es ist ein bizarres Bild. Studenten, die am Sonntagnachmittag an der Uni Reden schwingen, fremde Meinungen vertreten und Forderungen stellen, die kein Anwesender erfüllen kann. Capelle gestikuliert oberlehrerhaft hinter dem Pult. Wie eifrige Schüler wedeln seine Wettstreiter mit den Armen, in der Hoffnung, dass er ihnen das Wort erteilt. Eine Stunde lang wird die Stirn gerunzelt, der Kopf geschüttelt und mit dem Partner getuschelt, um den nächsten Angriff abzusprechen. Energydrinks sind stets zur Hand, denn Pausen gibt es keine.
Wettstreit mit elitärem Beigeschmack
Debattierclubs sind in Großbritannien Tradition: Der erste Club wurde 1850 an der Universität Cambridge gegründet. Bis heute orientieren sich die internationalen Debattierregeln am britischen Unterhaus. Demnach besteht eine Debatte aus vier Zweierteams, wobei zwei Teams für das vorgegebene Thema argumentieren, die anderen zwei Teams dagegen. Die Streitthemen reichen vom ethischen bis ins politische Spektrum: Sollten die Medien Gräueltaten von Krieg und Terror in vollem Umfang zeigen? Ist es bedauernswert, dass die AfD Nicht-Wähler mobilisiert?