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Keine Mehrstufenklassen mehr?

Von Alexandra Laubner

Politik

Während in Wien 225.000 Kinder heute dem Schulschluss entgegenfiebern, fürchten Pädagogen und Eltern um die Zukunft der Wiener Mehrstufenklassen.


Wien. Der Nationalrat hat am Donnerstag die Bildungsreform beschlossen, die auch das Schulautonomiepaket beinhaltet. Künftig sind Direktoren für die Ressourcenverteilung verantwortlich. "Kommen die Mehrstufenklassen durch die Schulautonomie unter die Räder?", fragt sich Luzia Bäck, die vor 20 Jahren die Mehrstufenklassen mitinitiiert hat.

"Wiener Zeitung": Die Mehrstufenklassen sind in Wien seit 20 Jahren ein Schulversuch. Müssten Sie sich nicht freuen, dass das Modell ab Herbst durch die Reform in das Regelschulsystem aufgenommen wird?Luzia Bäck: Wien hat viele Schulversuche, die über eine lange Periode laufen, wie beispielsweise die alternativen Leistungsbeurteilungen. Wir waren damals über den Schulversuch sehr erfreut. Dadurch wurde uns bei den Mehrstufenklassen eine zweite Lehrkraft mit 18 Stunden bewilligt. Derzeit sind es nur noch 11 Stunden, was für uns das absolute Minimum ist. Meine Erfahrungen zeigen, dass, wenn ein Schulversuch in das Regelschulsystem übergeleitet wird, die Bedienungen schlechter werden.

Sie befürchten, dass die Schulautonomie Auswirkungen hat?

Ich frage mich, ob beim Verteilen der Ressourcen innerhalb der Schule Neid und Missgunst regieren wird. Die Machtkonzentration wird künftig bei einer Person, sei es bei der Direktorin oder beim Direktor, liegen - ohne Mitsprache von Lehrern und Eltern. Das halte ich für einen Stolperstein. Ich denke, dass Basisinitiativen, die von Lehrern ins Leben gerufen werden, so wie es bei den Mehrstufenklassen der Fall war, vom Goodwill der Leitung abhängig sein werden.

Wird es einen Kampf um die Ressourcen geben?

Ja, das befürchte ich. Denn die Frage, wie man Ressourcen an einer Schule verteilt, ist eine haarige Geschichte. Nach welchen Kriterien wird der Schulkaiser agieren? Ein Verhandlungserfolg im zähen Ringen um die Reform ist das Bekenntnis zum sogenannten Chancenindex. Dieser soll nach einheitlichen, transparenten Kriterien mehr Lehrpersonalressourcen dorthin fließen lassen, wo sie aufgrund von Schülerströmen, Förderbedarf, sozio-ökonomischen Hintergründen und im Alltag gebrauchter Sprache vermehrt nötig sind. Auch spezielle Bildungsangebote, die eine Schule bietet, werden als Kriterien genannt. Da sehe ich Mehrstufenklassen auf jeden Fall gemeint. Leider sind derzeit genauere Angaben nicht bekannt, aber es muss sich hier in Wien etwas bewegen. Da ist der Bedarf einfach am größten.

Müssen Eltern Bedenken haben, dass es in einem Jahr die Mehrstufenklassen nicht mehr gibt?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Durch die Bildungsreform und dem Schulautonomiepaket wird sich zwar vieles ändern, aber das passiert nicht von heute auf morgen. Die Wiener Mehrstufenklassen sind im nächsten Jahr durch den Stadtschulrat abgesichert, das ist fix. Wenn sich dieser in eine Bildungsdirektion wandeln - wann das der Fall sein wird, weiß ich nicht - und neu besetzt wird, kann man die Zukunft der Mehrstufenklassen nicht vorhersagen. Es wird aber auch an dem Engagement der Eltern und Lehrern liegen. Für das nächste Schuljahr müssen sich die Eltern aber keine Sorgen machen, so wurde es uns kommuniziert.

In Wien gibt es seit 1997 Mehrstufenklassen mit reformpädagogischem Schwerpunkt. Sie waren von der Stunde null an dabei.

Ja, ich habe die Mehrstufenklassen mitbegründet. Die Mehrstufenklassen sind damals aus der Freinet-Gruppe Wien, einer reformpädagogischen Strömung, entstanden. Célestin Freinet, ein französischer Reformpädagoge, hat zur Zeit von Maria Montessori einen sehr offenen Lernbetrieb umgesetzt, bei dem vom Kinde aus unterrichtet wurde. Freinet hat sich radikal gegen die Verschulung, gegen die damaligen Lern- und Drillschulen ausgesprochen. Wir von der Freinet-Gruppe Wien haben den Schulversuch durchgedacht, verschiedene Konzepte gelesen, alles zusammengetragen und dann das Modell eingereicht. Und es ist erstaunlicherweise in kürzester Zeit bewilligt worden. Der Vorlauf war ein halbes Jahr. Der damalige Landesschulinspektor hat zu uns gesagt: "Macht’s!" Das war eine sehr innovative Phase. Manche haben es als Wildwuchs bezeichnet, ich sehe es Innovation in der Wiener Schulpolitik.

Als Schulversuch mussten die Mehrstufenklassen jedes Jahr neu eingereicht werden. Hat Sie das nicht verunsichert?

Natürlich, wir haben jedes Jahr gezittert. Wir sind in Wien jedoch immer unterstützt worden. Der Stadtschulrat hat die Mehrstufenklassen als förderungswürdiges Projekt angesehen. Was aber passiert ist, ist, dass wir nach und nach die Zusatzstunden für die zweite Lehrerin verloren haben.

Gibt es derzeit eine Rechtssicherheit für die Mehrstufenklassen?

Nein, eine Rechtssicherheit sehe ich nicht, aber den Willen, diese Klassen in Wien zu erhalten.

Kritisiert wird, dass die soziale Durchmischung an Mehrstufenklassen fehlt, da vor allem bildungsaffine Eltern ihre Kinder anmelden.

An der Durchmischung führt kein Weg vorbei. Wir müssen unsere Klassen öffnen. Das Modell birgt auch sehr viele Chancen für Kinder aus bildungsferneren Schichten und zum Erwerb der Sprache. Die Öffnung der Mehrstufenklassen ist ein Punkt, der mich sehr beschäftigt.

Wie könnte es funktionieren?

Wir haben an der Lernwerkstatt einen mehrsprachigen Tag, wo Kinder in ihrer Muttersprache Erwachsene durchs Haus führen. Das könnte man auch an anderen Schulen andenken. Noch intensivere Zusammenarbeit mit Kindergärten und die Verankerung in der unmittelbaren Schulumgebung können da helfen.

Zur Person

Luzia Bäck

ist eine der Initiatorinnen der Wiener Mehrstufenklassen. Sie ist Psychotherapeutin in einer Mehrstufenklasse an der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau tätig und Teil eines Netzwerkes für Mehrstufenklassenlehrer.