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Die neuen Herrscher

Von Bernd Vasari

Politik

Wenn Staaten erfolgreich sein wollen, müssen sie sich nach Städten richten.


Wien. Die ländliche Idylle hat ausgedient. Wer etwas werden will, der geht in die Stadt. Kurze Wege, ein reiches Kulturangebot und diverse Bildungs- und Jobmöglichkeiten machen die Ballungszentren der Welt zum angesagtesten Lebensraum der Zukunft.

Bereits heute wohnt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten. Geht es mit der Entwicklung in derselben Richtung weiter, werden es bald noch viel mehr sein. Die meisten Prognosen gehen davon aus, dass der Trend der Landflucht anhalten wird und das 21. Jahrhundert als urbanes Zeitalter in die Geschichte eingehen wird. Im Vergleich zum Jahr 1950, als 309 Millionen Menschen in Städten lebten, werden es im Jahr 2030 rund 3,09 Milliarden sein. Die Vereinten Nationen schätzen zudem, dass bis 2050 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden.

Migranten sind Impulsgeber und Gestalter

Steigende Immobilienpreise und immer kleinere Wohneinheiten sind die ersten spürbaren Auswirkungen der Völkerwanderung. Doch auch höhere Wohnungspreise stoppen diese Entwicklung nicht. Die Landwirtschaft ist für viele Menschen nicht mehr lebenserhaltend.

Auch wenn die Stadtviertel für die Neuankömmlinge nicht mit Gold gepflastert sind, so offenbaren Städte mehr Möglichkeiten und Chancen. Denn Migranten sind keine passiven Opfer, sie sind vielmehr die Gestalter und Impulsgeber für ihre neue Umgebung, schreibt Doug Saunders in seinem preisgekrönten Buch "Arrival City".

Migranten seien der Antrieb der Städte und gekommen, um ihren Lebensstandard zu verbessern, sie sind strebsam und bringen Unternehmergeist mit. Jenen, die sich vor Migranten fürchten, sagt Saunders, dass Städte die Fähigkeiten, die Energie und die Arbeitskraft dringend benötigen würden, um zu überleben.

Angekommen in der Mittelschicht

In erstaunlich vielen Fällen würde den Nachkommen von Migranten innerhalb von einer oder zwei Generationen der Aufstieg in die städtische Mittelschicht gelingen, selbst wenn ein beträchtlicher Teil von ihnen zuvor völlig besitzlos war. Angekommen in der Mittelschicht schaffen sie auch neue Arbeitsplätze und zahlen Steuern.

Schon immer übten Städte eine hohe Anziehungskraft auf die Menschheit aus. Doch warum hat sich die Entwicklung nun beschleunigt?

Ein wichtiger Faktor ist die voranschreitende Globalisierung. Die Ausstrahlung von Städten beschränkt sich nicht mehr nur auf ihr Hinterland. Vielmehr stehen sie heute in Konkurrenz und im Austausch zu anderen Metropolen. So wird etwa die Eindämmung des Klimawandels nicht mehr vordergründig durch Staaten vorangetrieben, sondern durch Städte. Sie sind schließlich auch am stärksten betroffen von Feinstaubbelastungen durch erhöhtes Verkehrsaufkommen und Industrie-Emissionen.

Die Städte liefern den Staaten konkrete Maßnahmen. Fahrverbote für Autos, um den CO2-Ausstoß zu senken, werden zuerst in Städten durchgesetzt. In Deutschland gibt es bereits in über 50 Städten Umweltzonen, auch in Wien wird darüber bereits nachgedacht. In Paris bekommen Fahrzeuge mit zu hohen Emissionen keine Plakette, ebenso wie Autos, die älter als 20 Jahre sind. Strenge Regeln gibt es ab Oktober auch in London. Dann kostet es knapp zwölf Euro, mit einem Auto, das die EU-Abgasvorschriften nicht einhält, in die Metropole zu fahren.

Die Urbanisierung des Planeten wirkt sich auch auf die politischen Kräfteverhältnisse aus. Was der Historiker Lewis Mumford einst als "größte Errungenschaft der Zivilisation" gepriesen hat, die Erfindung der Stadt, ist auf dem Weg, die Macht der Länder zu minimieren. Es gibt bereits Städte, deren volkswirtschaftliche Potenz die Möglichkeiten ganzer Nationalstaaten überstrahlt. Mit der Dynamik in Städten können diese immer seltener mithalten.

Ambitionierterals Staaten

Städte nehmen Trends schneller wahr und tragen diese in die ganze Welt hinaus. So spielen sie bei der Jobbeschaffung eine wichtige Rolle. "Strategien für ganze Nationalstaaten sind der falsche Weg. Wir müssen uns den lokalen Arbeitsmarkt ansehen und nicht ein ganzes Land. Das bringt nichts", sagt Eurocities-Chefin Anna Lisa Boni. Zudem würden Länder vor allem an sich denken. "Städte sind da viel kooperativer und offener. Sie sind empfänglich für die Zusammenarbeit mit anderen Städten. Sie sind auch viel ambitionierter als die Mitgliedsstaaten."

In der Europäischen Union fordern Städte nun mehr Entscheidungskompetenz. Vor vier Jahren verabschiedeten 20 Vertreter europäischer Hauptstädte bereits die "Wiener Deklaration". Das Ziel: die städtische Dimension in allen relevanten Entscheidungsprozessen in der EU zu verankern. So fordern die Hauptstädte, dass mehr Expertengruppen aus ihrem Bereich in der EU-Kommission vertreten sind. Politisch gewählte Städte-Vertreter sollten zudem ein Rederecht im EU-Parlament bekommen, um sich mehr Gehör verschaffen zu können.

Und was den finanziellen Handlungsspielraum der Städte betrifft, so wünscht man sich flexiblere Regelungen, um öffentliche Investitionen für die Schaffung von Arbeitsplätzen zu fördern. Darunter die Möglichkeit, nachhaltige Investitionen - etwa im Bereich Bildung, Forschung, öffentlicher Verkehr und Gesundheit - aus der Verschuldung herausrechnen zu dürfen.

Werben umHochqualifizierte

Neben der Zusammenarbeit stehen Städte durch die Globalisierung auch unter mehr Konkurrenzdruck. Vor allem der Arbeitsmarkt ist betroffen. So findet ein Wettbewerb um Hochqualifizierte und Fachkräfte statt. Sie können sich die Städte aussuchen, in denen sie arbeiten und leben wollen. Für die Städte selbst ist es daher notwendig, sich von anderen Städten zu unterscheiden und in bestimmten Bereichen eine hohe Expertise und Innovationskraft aufzubauen — in der Digitalisierung, Natur- und Medizinwissenschaft, bei Software und Technologie.

Auch eine hohe Lebensqualität zählt zu den entscheidenden Faktoren, um im Wettbewerb zu bestehen. Eine hohe Flexibilität und eine schnelle Umsetzung sind grundlegende Eigenschaften von Städten. Selbst in schwachen Staaten und kollabierenden Imperien werden Städte weiterleben, schreibt Städteforscher Greg Clark in seinem Buch Global Cities. "Sie sind globaler als Staaten, weil sie noch stärker in den weltweiten Handel involviert sind. Dadurch werden sie auch zunehmend zu den Machern", erklärt der Forscher, der unter anderem für die Weltbank und die OECD gearbeitet hat.

Ganz oben stehen seiner Ansicht nach Paris, London, New York City, Tokio, Hongkong und Singapur. Shanghai, Peking, Sao Paulo, Mumbai und Neu Delhi könnten bald aufschließen.

Für Clark ist es wichtig, dass Staaten die Dominanz ihrer Städte als Chance für sich selbst sehen. Denn eines ist klar: Städte können ohne Staaten, aber Staaten nicht ohne ihre Städte. Wenn sich der Staat aber nach der Stadt richtet, kann das ganze Land profitieren. Die Stadt müsse jedoch darauf achten, dass auch das Umland profitiert. Ansonsten drohen weitere Szenarien wie etwa der Brexit. Es könnte zu Revolten kommen, von jenen, die von den Vorzügen der Globalisierung ausgeschlossen sind.

Als Beispiel für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Staat und Stadt nennt Clark Neuseeland und seine größte Stadt Auckland. Lange Jahre wanderten Hochqualifizierte und potenzielle Entscheidungsträger aus dem landwirtschaftlich geprägten Land aus. Die Globalisierung war für Neuseeland also zuerst eine Bedrohung. Mittlerweile ist die Regierung umgeschwenkt und baute Auckland zu einem Innovationszentrum aus. Mit den anderen Regionen Neuseelands wurde eine enge Partnerschaft ins Leben gerufen. Auckland führt nun die Nation und alle profitieren.

Freie Gesellschaftist grundlegend

In Europa seien es Dänemark und Kopenhagen sowie Österreich und Wien, die eine ähnliche Konstellation bilden. "Es sind nicht immer glückselige Deals zwischen der multikulturellen, kosmospolitischen Stadt und dem von nationaler Identität geprägten Hinterland", erklärt Clark. Wenn es auf beiden Seiten aber Nutznießer gibt, dann wird es funktionieren.

Die Basis für eine globale Stadt ist eine freie Gesellschaft. "Es muss eine diverse Bevölkerung mit verschiedenen Ansichten sein, eine Bevölkerung, die innovativ ist", sagt Clark. "Eine globale Stadt ohne zivile Freiheiten kann es nicht geben."