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"Sie haben uns gefunden"

Von Bernd Vasari

Politik

Mit der U1-Verlängerung wird Oberlaa Teil der Stadt. Das freut nicht alle Bewohner dort.


Wien. In Oberlaa ist die Welt noch in Ordnung. Hier hat alles seinen Platz, seine Richtigkeit. Das gibt Sicherheit. In Oberlaa reiht sich ein einstöckiges Haus neben das andere, überragt nur von der Kirche auf dem Hauptplatz. Jeder kennt jeden, man ist unter sich. Es wird ausschließlich Deutsch gesprochen. Der Pfarrer hält Feldmessen, die freiwillige Feuerwehr organisiert Frühschoppen, Männer in Lederhosen nehmen den Bieranstich vor, während die Schlagerband "Dirndl Rocker" jodelt und schunkelt. So war es immer schon. So soll es auch bleiben, wenn es nach den Oberlaaern geht. Doch wie lange noch?

Seit knapp 80 Jahren ist Oberlaa ein Teil von Wien. Das Dorf wurde, wie viele andere auch, von den Nazis an die Stadt angegliedert. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Dörfer wieder an Niederösterreich zurückgegeben wurden, verblieb Oberlaa. Ein Veto der Sowjets verhinderte die Rückgabe. Seither gehört Oberlaa zum 10. Bezirk Favoriten. Als Wiener haben sich die Bewohner aber nie begriffen. Und schon gar nicht als Favoritner.

Über all die Jahrzehnte bewahrten sie den dörflichen Charakter ihres Ortes. Der Besucheransturm auf Therme und Kurpark hatte darauf keine Auswirkungen. Die beiden Aushängeschilder Oberlaas liegen schließlich auf der anderen Seite der Bahngleise, die den ländlich geprägten Ortskern vom restlichen Bezirk abschneiden. Doch die Gleise werden die Stadt nicht mehr länger aufhalten können. Mit der Verlängerung der U-Bahnlinie U1 nach Oberlaa wird sie nun zu dem Dorf hinaus wachsen. Das Dorf ist auf dem Weg zu einem urbanen Stadtteil.

Bei diesem Gedanken umschleicht viele Oberlaaer ein mulmiges Gefühl. "Die Stadt wächst, so ist halt der Lauf der Zeit", sagt Monika Braunsteiner schulterzuckend. "Ist sicher gut für unser Geschäft", fügt sie hinzu. "Es wird auch einfacher sein, nach Hause zu kommen, wenn man etwas getrunken hat." Zwischen den Zeilen schwingt jedoch Verbitterung mit. Ihre Sätze klingen wie Durchhalteparolen. Seit 24 Jahren leitet Braunsteiner den Dorf-Wirt in Oberlaa, nur wenige hundert Meter, bevor die Felder beginnen. Schönbrunngelbe Fassade, Gastgarten mit Holzbänken, Tischtücher mit rot gestickten Herzen. Sie trinkt einen Schluck Wasser. "So wie früher wird es nicht mehr werden", sagt sie.

Ein Leben mit Hasen, Schweinen und Hühnern

Braunsteiner, blonde Föhnfrisur, silberne Kugelohrringe, schwarz umrandete Brille, ist in Oberlaa aufgewachsen. Sie spielte im örtlichen Musikverein Klarinette, lernte hier ihren Mann kennen und gründete mit ihm eine Familie. Das Stadtleben war weit weg. "Wir hatten Hasen, Schweine, Kühe und Hühner", erinnert sie sich. Sie erzählt von der Gemeinschaft im Dorf, vom Zusammenhalt und dem gegenseitigen Vertrauen. "Niemand sperrte seine Wohnungstüre zu, die Bauernhäuser waren alle offen." Das sei heute unvorstellbar. Überall werde eingebrochen. "Es kommen viele fremde Menschen hierher. Das sind wir nicht gewohnt", sagt sie. Mit der U-Bahn werden es noch mehr werden, die Stadt plant tausende Wohnungen. "Das verunsichert uns", sagt sie.

Es ist Mittagszeit beim Dorf-Wirt. Langsam trudeln die Gäste ein. Viele von ihnen sind Stammgäste. Manche von ihnen haben reserviert. Sie sind es gewohnt immer auf demselben Platz ihr Mittagessen einzunehmen. Die Tischgespräche drehen sich um die U-Bahnverlängerung. Bei Krautroulade, Cordon Bleu und Schnitzel malen sich die Oberlaaer ihre Zukunft aus. "Jetzt ist es vorbei mit der Ruhe", sagt eine ältere Frau im Blumenkleid. "Nur 20 Minuten brauchen wir jetzt zur Donau, 15 Minuten auf den Stephansplatz. Das hätte ich mir nicht gedacht", erklärt hingegen ein Mann mit Gelfrisur.

Argumente dafür und dagegen werden abgewogen und diskutiert. Man ist nicht immer einer Meinung, außer in einem Punkt. Es geht um die bisherige Endstelle der U1, den Reumannplatz im Herzen von Favoriten. Der Platz ist für die Oberlaaer zu einem Symbol geworden. Ein Symbol, für alles, was schlecht läuft in Wiens bevölkerungsreichstem Bezirk.

Der Reumannplatz ist "in türkischer Hand"

"Waren Sie schon einmal dort?", fragt Braunsteiner. "Haben Sie sich das angeschaut?" Auf die Gegenfrage, was sie genau meint, fehlen der wortgewaltigen Frau für einen kurzen Moment die Worte. Dann sagt sie: "Wie das dort ausschaut. Da kann man ja nicht mehr hingehen." Früher habe sie an der dortigen Fußgängerzone noch eingekauft. Das ist nun vorbei. "Das ist alles in türkischer Hand. Bäckerei, Frisör, alles türkisch", erklärt die Wirtin. "Da hörst ja kein Wort Deutsch mehr."

Braunsteiner spricht aus, was viele Oberlaaer denken. "Der Reumannplatz ist Klein-Istanbul. Es würde uns im Traum nicht einfallen dorthin zu gehen", heißt es immer wieder bei einem Rundgang durch den Ort. So wie am Reumannplatz dürfe es in Oberlaa nie werden. "Da fühle ich mich nicht mehr zuhause, da fühle ich mich nicht mehr geborgen." Braunsteiner erklärt: "Die Leute haben Angst, dass die mit der U-Bahn jetzt zu uns kommen."

Gerhard Tschipan, Hotelier und selbsternannter Ureinwohner von Oberlaa, nickt. "Der Reumannplatz ist eine No-go-Area. Wir schotten uns ab, sie schotten sich ab. Ich gehe dort zum Tichy und hole mir ein Eis, aber das war es dann", sagt er. Die Tatsache, dass die U1 ab diesem Wochenende in Oberlaa endet, gefällt ihm nicht. Er nippt an seinem Achtel Weißwein. "Endstationen sind als spezielle Orte bekannt", sagt er. "Immerhin soll eine Polizeistation kommen."

Doch auch bei den jungen Oberlaaern hält sich die Freude über die U-Bahn in Grenzen. Statt mit den Öffis in die Stadt, fahren sie lieber mit dem Auto ins Einkaufszentrum Shopping City Süd (SCS), um sich einzukleiden oder mit Freunden ins Kino zu gehen. Die Wiener Clubszene vermissen sie nicht. "Wir machen unsere Partys selbst." Es werden Lagerhallen ausgeräumt und für die Dauer eines Wochenendes zu dörflichen Clubs umfunktioniert.

"Wir versuchen, die Tradition zu bewahren"

"Es tut sich hier schon einiges", sagt Franz Wieselthaler, rundliche Statur, Kurzhaarschnitt, grünes Poloshirt. Er grinst: "Wie man feiert, das wissen wir." Franz Wieselthaler, der denselben Vor- und Nachnamen wie sein Vater und Großvater trägt, leitet in Oberlaa die Landjugend. Einen Verein, den es für gewöhnlich nur im ländlichen Bereich gibt. "Wir versuchen, die Tradition zu bewahren", sagt der Getreidebauer. Feste organisieren, regelmäßige Treffen beim Heurigen und Weiterführen von Brauchtümern.

Als einer der Höhepunkte gilt die jeweils im Juni stattfindende Sonnwendfeier. Bei Dämmerungseinbruch versammeln sich die Dorfbewohner rund um einen zusammengetragenen Scheiterhaufen. Nach Dankesworten des Pfarrers entzünden sie das Feuer, während Jagdhornbläser ihre getragenen Stücke vortragen. "Die Flammen gehen bis zu zehn Meter hoch", sagt Wieselthaler. "Das ist schon spektakulär." Die Landjugend serviert danach das Essen. Bei Schmalz- und Wurstbroten lassen die Oberlaaer den Abend ausklingen.

"Ich bin stolz, ein Oberlaaer zu sein, weil wir uns vom Stadtleben Gott sei Dank noch abgrenzen können", sagt Wieselthaler. "Jeder kennt sich. Ich hoffe, das bleibt auch so." Die Landjugend hat jedenfalls regen Zulauf. Zuletzt nahm der Verein acht neue Mitglieder auf.

Die Verlängerung der U1 ist für ihn kein Thema. "Ich bin zu faul zum U-Bahnfahren. Vom Heurigen nehme ich lieber ein Taxi", sagt er und bestellt ein weiteres Achtel Weißwein. Verärgert ist er aber über die Parkraumbewirtschaftung, die zeitgleich mit der U-Bahn-Verlängerung eingeführt wird. "Jetzt brauche ich für meinen Traktor ein Parkpickerl", sagt er und schüttelt den Kopf.

Die Immobilienbranche lässt sich von der Einführung des Parkpickerls nicht abschrecken. Für sie brechen in Oberlaa rosige Zeiten an. Der U-Bahnausbau lässt die Preise steigen. Das Haus im Grünen mit Öffi-Anschluss ist begehrt. Ein lohnendes Geschäft. Immer mehr Bauern verkaufen ihre Grundstücke zu satten Gewinnen. Statt der großzügigen Felder werden Reihenhäuser errichtet und mehrstöckige Wohnhäuser gebaut. Die landwirtschaftlichen Betriebe werden weniger.

"Ich bin kein Städter", sagt Monika Braunsteiner. "Ich bin am Land geboren und aufgewachsen. Ich habe ein anderes Verhältnis zu Platz. Wo es enger wird, fühle ich mich eingezwängt und eingesperrt." Man müsste mehr Rücksicht auf die Oberlaaer nehmen. "Wir haben das Gefühl, dass die Stadt über uns drüberfährt. Die Stadt muss ja irgendwohin wachsen, es geht aber um das Wie, um den Umgang mit der Bevölkerung."

"Die Straßenbahn hätten sie nicht einstellen müssen"

Das ausgesuchte Datum der U-Bahneröffnung belegt für sie die unsensible Vorgangsweise vonseiten der Stadt. So fällt der 2. September mit dem jährlichen Kirtag zusammen. Neben der Sonnwendfeier das zweite Großereignis in der Dorfgemeinschaft. In Tracht und Lederhose feiern die Oberlaaer den Geburtstag des Schutzpatrones der Kirche. "Der ganze Ort trifft sich", erklärt Braunsteiner. Am Samstag beim Heurigen, am Sonntag in der Kirche und danach wieder beim Heurigen. Geboten werden Volksmusikgaudi, Hüpfburg und Nagelwettbewerb, bei dem mit dem Hammer Nägel in einen Baumstumpf eingeschlagen werden. "Es ist ignorant von der Stadt, die Eröffnung der U-Bahn ausgerechnet an diesem Tag zu machen", sagt Braunsteiner.

Außerhalb Oberlaas, entlang der neu errichteten 4,6 Kilometer langen Strecke, freuen sich viele Favoritner über den Ausbau. "So kommen wir schneller raus aus der Stadt in die frische Luft", sagt eine Beamtin, die bei der neuerbauten U-Bahnstation Troststraße wohnt. Auch eine Gruppe von jungen Favoritnern ist angetan. "Die U-Bahn ist cool. Jetzt können wir mit der U-Bahn in den Oberlaaer Park fahren", sagen sie.

Ein pensionierter Techniker der ÖBB findet ebenso Gefallen. "Die Straßenbahn hätten sie zwar nicht einstellen müssen, aber die U-Bahn finde ich gut", sagt er. "Hoffentlich funktionieren die Rolltreppen. Stiegen steigen kann ich nämlich nicht mehr." Ein anderer frohlockt: "Mit der U-Bahn zum Heurigen. Das kann ja heiter werden."

Die Mittagszeit im Oberlaaer Dorfwirt ist vorbei. Nur eine Männerrunde sitzt noch am Stammtisch und schnapst. Monika Braunsteiner schaut in die Ferne, dann lächelt sie: "Meine Schwiegermutter hat immer gesagt: Beim Eisenbahnschranken hört der 10. Bezirk auf und uns Oberlaaer vergessen sie immer. Keine ordentlichen Straßen, keine Verschönerung und so weiter." Sie schüttelt den Kopf: "Heute können wir sagen: Sie haben uns leider gefunden."

Die neue Station in Oberlaa.

Tausende neue Wohnungen werden in der Gegend gebaut.