Das 1902 entstandene Bild "Der späte Schlafbursche" des Berliner Künstlers Heinrich Zille gewährt in sozialsatirischer Weise einen gewitzten Einblick in ein spezifisches Phänomen europäischer Großstädte von anno dazumal. Die im 19. Jahrhundert rasant voranschreitende Massenproletarisierung der Großstädte hatte dazu geführt, dass die Wohnungskapazitäten stets überstrapaziert waren.
Viele Menschen konnten sich keine eigene Wohnung leisten und mussten froh sein, wenn sie zumindest eine Schlafstelle mieten konnten. Es entstand die soziale Schicht der "Bettgeher". Weil viele Wohnungsinhaber selbst in Armut lebten und dringenden Geldbedarf hatten, vermieteten sie einen Teil der Wohnung an Untermieter (in Wien hießen diese "Aftermieter") oder eine Schlafstelle an Bettgeher.
Hausregeln für Bettgeher
Der Titel von Zilles Heliogravüre spielt bereits auf ein wesentliches Merkmal des seinerzeitigen Bettgeherwesens an. Der Bettgeher hatte praktisch nur das Recht zur Übernachtung. Bereits zeitig in der Früh musste er das Haus verlassen. Erst zu später Stunde durfte er sein Bett wieder aufsuchen. Die Bettgeherzeiten waren oft strikt geregelt. Aus Wien sind Regelungen bekannt, wonach der Bettgeher spätestens um 7 Uhr morgens die Wohnung verlassen musste und frühestens um 21 Uhr zurückkehren durfte. Wenngleich die dem Arbeiterstand entstammenden Bettgeher werktags ohnedies am Tag in der Fabrik waren und keine Zeit zum Wohnen hatten, so ergab sich an Sonn- und Feiertagen das Problem, dass diese genötigt waren, sich auf öffentlichem Terrain herumzutreiben. Sonntagsspaziergänge standen ebenso auf dem Programm wie Herumlungern auf Parkbänken. Fürs Wirtshaus reichte der Lohn nur in den seltensten Fällen.
Ein weiteres Charakteristikum des Bettgeherwesens war die infolge des engen Zusammenwohnens gelockerte Intimsphäre. Im Falle von Zilles Bild verweist die entblößte Brust der Frau, die ihren Säugling stillt, ebenso darauf wie die Nacktheit ihrer im Badebottich stehenden Tochter. Das heranwachsende Mädchen, bereits deutlich mit weiblichen Rundungen ausgestattet, hätte sich unter anderen Umständen dem Blick des Fremden wohl kaum in dieser Weise dargeboten.
Nicht selten kam es vor, dass der Bettgeher im selben Zimmer nächtigte wie die Vermieterfamilie. Es sind sogar Fälle überliefert, in denen sich der Bettgeher ein Bett mit einem Mitglied der Vermieterfamilie teilte. Das enge Zusammenliegen von zwei, drei und manchmal sogar vier Personen in einem Bett war anno dazumal in Unterschichtenhaushalten nichts Außergewöhnliches. Auch in der zwar sauberen, aber äußerst beengten Wohnung auf Zilles Bild sind in den beiden Betten gleich mehrere Köpfe zu sehen. Kinder von Armen hatten ohnedies kaum ein eigenes Bett zur Verfügung.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierten in den Wiener Arbeiterbezirken Wohnungen, die bloß aus Zimmer und Küche oder gar nur aus Kabinett und Küche bestanden. In solchen Behausungen waren oft Familien mit mehr als zehn Personen zusammengepfercht, die in ihrer Not dazu gezwungen waren, auch noch Bettgeher einzuquartieren.
Tabuzone nach dem Kreidestrich
Um den Bettgeher in die Schranken zu weisen, markierten die Vermieter mit einem Kreidestrich jenen Bereich, den er nicht überschreiten durfte. Eine 1869 in Wien durchgeführte Volkszählung brachte zum Vorschein, dass unter den damaligen neun Bezirken der Kaiserresidenz mit 10,86 Prozent der höchste Bettgeheranteil auf Margareten entfiel. In den seinerzeitigen Vororten Fünfhaus, Sechshaus, Gaudenzdorf, Floridsdorf und Rudolfsheim lag der Bettgeheranteil sogar zwischen 12,3 und 20,5 Prozent.