Schaffenspause oder endgültiges Aus? Seethaler hängt schon länger keine Pflücktexte mehr auf. - © Jenis
Schaffenspause oder endgültiges Aus? Seethaler hängt schon länger keine Pflücktexte mehr auf. - © Jenis

Wien. "Nach meiner schweren Sturz-Verletzung beende ich die Verbreitung meiner Zettel-Gedichte." Diese kurze Nachricht erreichte die Redaktion der "Wiener Zeitung" vor einigen Tagen. Sie stammte von Helmut Seethaler, der seine kurzen und in der Regel gesellschaftskritischen Werke seit 45 Jahren an Wände, Plakate und Baustellenwände klebt und schreibt. Tatsächlich fehlen diese Reihen und Wälle an "Pflückgedichten" schon seit einigen Wochen im Stadtbild, beispielsweise in der U4 Schwedenplatz.

"Ich bin einfach verunsichert", meint Seethaler am Telefon. Für ein persönliches Gespräch sei er noch zu schwach, sagte er. Das klingt nicht nach dem energischen und zuweilen als eigenwillig beschriebenen Seethaler, den die "Wiener Zeitung" vor einem Jahr bei einer seiner Verteilaktionen begleitet hat. Der sich weder von der Entfernung seiner Gedichte durch Baufirmen, Gewista, Wiener Linien und Museumsquartier noch von Klagen wegen Sachbeschädigung der jeweiligen Unternehmen stoppen ließ. Zumal das Gesetz auf seiner Seite war, da er abwaschbare Stifte und rückstandsfreies Klebeband benutzte. Auch Graffiti auf Baustellenabdeckungen seien laut Richter in Ordnung. "Ich darf das, also tue ich es", lautete sein Motto in dieser Sache.

Was hat Seethaler also nach mehr als vier Jahrzehnten künstlerischen Aktionismus aus der Bahn geworfen? Zuerst kam der Überfall. Seethaler wurde am Heimweg von einem betrunkenen Mann auf offener Straße angegriffen und bedroht. "Er wollte, was in meiner Tasche war, aber da waren nur meine Zettel drin, kein Geld oder Ähnliches", erinnert er sich. Der Angreifer habe ihm daraufhin in die Mangel genommen und mehrmals auf den Kopf geschlagen. Passanten eilten Seethaler zu Hilfe und verständigten die Polizei. "Ich wollte eigentlich nur nach Hause und das alles vergessen. Mir ist zum Glück nicht wirklich was passiert, aber meine Brille hatte es erwischt."

Der Schock saß trotzdem. "Ich wollte eigentlich nicht zur Aussage vor Gericht", erinnert sich Seethaler. Den vorbestraften Angreifer wollte er nicht wiedersehen, aus Angst, wieder an alles erinnert zu werden. "Als ich ihm dann wieder begegnete, hat er wie ein Häufchen Elend auf mich gewirkt, er hat sich bei mir aufrichtig entschuldigt. Ihm hat es wirklich leidgetan. Ich wollte auch nicht, dass er verurteilt wird."

Auf eine gewisse Art habe ihm die erneute Begegnung dabei geholfen, den Vorfall zu verarbeiten. Trotzdem zeigt sich am Zetteldichter immer noch jene Verunsicherung, die Überfallsopfer nur allzu gut kennen. "Wenn mir abends jemand auf der Straße entgegenkommt, wechsle ich sofort die Seite. Ich lasse mein Handy zu Hause und nehme kein Bargeld mehr mit. Das wäre mir früher nie in den Sinn gekommen", sagt er.