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Vom Outlaw zum Mörder

Von Thomas Karny

Wissen

Im Jahr 1988 wurde ein Räuber mit Reagan-Maske und Schrotflinte zum Schrecken der Wiener Banken: Johann Kastenberger alias "Pumpgun-Ronnie". Seine Flucht verlief spektakulär.


"Heute war wohl mein größter Erfolg", keuchte Johann Kastenberger dem Reporter ins Mikrofon, nachdem er am 11. September 1988 den Willi-Haase-Lauf im steirischen Kainach gewonnen hatte. Den anspruchsvollen Bergmarathon über 1800 Höhenmeter hatte er in der fulminanten Bestzeit von 3:16:07 Stunden absolviert, die eigentlich Grund für ausgelassenen Jubel geben hätte müssen. Aber jene, die dabei waren, erinnern sich an einen zurückhaltenden, nahezu schüchternen jungen Mann, an sein verhaltenes Lächeln im Spätsommerlicht. Zwei Monate später wird der sympathisch wirkende Sieger von Kainach einen ganz anderen Lauf zeigen. Seinen letzten, und eine ganze Nation wird dabei zusehen.

Ein halbes Jahr war es her, als eine Bankraubserie Wien und Niederösterreich erschüttert hatte. Ein Räuber, der sein Gesicht hinter einer Ronald-Reagan-Faschingsmaske verbarg und seinen Forderungen mit einer Schrotflinte Nachdruck verlieh, hatte nicht weniger als sieben Geldinstitute überfallen: Am 20. November 1987 eine Raiffeisenkasse in Groß-Sierning bei St. Pölten, am 19. Februar 1988 drei Banken in Wien an einem Tag, und zwischen 21. und 23. März 1988 jeweils eine Bank täglich.

Den letzten Überfall erlebte Volksopernsänger Alfred Kainz, als er sich mit seiner Mutter in der CA-Filiale Dornbacher Straße befand, hautnah mit. Mutig sprang er in ein Taxi und forderte den Fahrer auf, den in einem VW Passat fliehenden Räuber zu verfolgen. Eine Tramway bremste die Verfolger aus. Als die Polizei das Fluchtauto entdeckte, war der trainierte Läufer über alle Berge. Wieder einmal. Wie immer.

Suche nach Halt

Die Boulevard-Presse hob ihn als "Pumpgun-Ronnie" auf die Titelseiten. Er agierte entschlossen, war so kaltblütig, dass er noch im Kassenraum das Geld nachzählte, und der Polizei immer um mindestens einen Sprint voraus.

"Masken-Räuber wird zum Albtraum der Banken" - diese Schlagzeile kam schon fast einer Auszeichnung gleich. Ein gewisses Amüsement war nicht zu verbergen, das da ein Einzelner mit seiner Dreistigkeit, dem ganzen Exekutivapparat auf der Nase herumzutanzen, auslöste. Und: Bei den Überfällen war zumindest physisch kein Mensch zu Schaden gekommen. Das machte den Räuber beinahe sympathisch.

Der Mann hinter der Maske war Johann Kastenberger. Umgerechnet 500.000 Euro hat er insgesamt erbeutet. Nur einen geringen Teil dieser Summe hat er ausgegeben: für die Anschaffung eines Nissan Prairie, für Zahnbehandlungen seiner Freundin und für sportmedizinische Untersuchungen. Der Rest des Geldes wurde angelegt. Er bezog Arbeitslosengeld und füllte wöchentlich einen Lottoschein aus. Gegenüber Bekannten und Nachbarn gab er an, in der Sportartikelbranche tätig zu sein. Kastenberger führte nicht das Leben eines Ganoven, im Gegenteil: Das Geld ermöglichte ihm den Rückzug in die Unauffälligkeit des Kleinbürgertums.

In eine solche schien er auch hineingeboren, als er am 1. Oktober 1958 das Licht der Welt erblickte und die relative Sicherheit, die ein ÖBB-Beamter seiner Familie bieten konnte, in die Wiege gelegt bekam. Doch der Mann, den seine Mutter als Vater angab, zweifelte und ließ einen Vaterschaftstest durchführen. Als Ergebnis verlor der Mann das Vertrauen in die Treue seiner Frau - und Johann vielleicht schon damals jenen Halt, den er sein ganzes Leben lang suchen sollte.

Im Jahr 1970 wird die Ehe geschieden, Johann bleibt mit seiner Mutter und sechs Geschwistern in seinem Heimatort, St. Leonhard am Forst, nahe Melk. Der Lebensstandard sinkt dramatisch. Die Mutter bringt ihre Familie mit Aushilfstätigkeiten und Gelegenheitsjobs durch, beim Jugendamt sucht sie regelmäßig um Unterstützung an. Johann versucht, ihr behilflich zu sein, kümmert sich um seine jüngeren Geschwister. In der Hauptschule verliert er den Anschluss und wird in den B-Zug zurückgestuft.

Anerkennung findet er im Sport. Er spielt so gut Fußball, dass ihn angeblich sogar ein Bundesligaklub für seine Jugendmannschaft engagieren wollte. Der dafür erforderliche Wegzug von zu Hause kam für ihn aber nicht in Frage. Er verlegte sich aufs Laufen - und gewann ein Rennen nach dem anderen. Er hatte wohl beste anatomische Anlagen für diesen Sport, aber auch die Bereitschaft, sich zu quälen. Ein Ehrgeiz, der ihm anderswo fehlte. An der Höheren Technischen Lehranstalt kam er über die erste Klasse nicht hinaus, in der Heeres-Sport- und Nahkampfschule in Wiener Neustadt blieb er gerade ein Jahr.

Blutiger Bruch

Im Jänner 1977 überfällt er die Volksbank in Pressbaum und erbeutet 70.370 Schilling, also rund 5000 Euro, flüchtet im Zug nach Wien und wird am Westbahnhof verhaftet. Außer dem Bankraub gesteht Kastenberger zwölf Einbrüche. Er wird zu acht Jahren Haft verurteilt, die er in Stein antritt. "Er litt ungewöhnlich stark unter der Haft", sagte der Anstaltsleiter Hofrat Karl Schreiner später, "sein Freiheitsdrang war nahezu pathologisch". Fluchtversuche folgten - und scheiterten. 1982 wurde er nach Graz-Karlau überstellt. Über einen Fernkurs absolvierte er erfolgreich eine kaufmännische Ausbildung und erlangte erstmals einen Formalabschluss. Im Februar 1984 folgte die bedingte Entlassung.

Er lernt die um sechs Jahre ältere Vera J. kennen, die in einem bekannten Wiener Hotel als Einkäuferin arbeitet und im Betriebsrat engagiert ist, und zieht zu ihr in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Wien-Donaustadt. Sie wird als "hausmütterlicher" Typ beschrieben, die ihrem Geliebten vor allem eines gibt: emotionale Stabilität. Kastenberger scheint sein Leben in den Griff zu bekommen, er tritt eine Stelle als Lagerarbeiter an und belegt im September 1984 einen einjährigen Schlosserkurs am WIFI St. Pölten.

Doch seine bürgerliche Existenz, kaum erlangt, bricht. Dass dieser Bruch ein furchtbar blutiger ist, wurde erst später bekannt. Er wird arbeitslos und das Laufen zur besessenen Ersatztätigkeit. Wenn seine Freundin in der Früh zur Arbeit fährt, zieht er sich Jogginganzug und Turnschuhe an und läuft: durch den Prater, die Donau-Auen, den Wienerwald - so weit ihn die Füße tragen. Er ist einer der besten Amateurläufer des Landes, war mit Halleneuropameister Dietmar Millonig bekannt und trainierte gemeinsam mit dem oftmaligen Staatsmeister Robert Nemeth. Vom Läuferkollegen bis zum Hausmeister, alle beschreiben sie ihn als höflich, freundlich und hilfsbereit. Biedermann und Schwerverbrecher, das wollte niemandem in den Kopf.

Als Vera J. schließlich bemerkt, dass ihr Lebensgefährte über ein nicht unbeträchtliches Geldvermögen verfügt, wird sie stutzig, lässt sich von ihm aber zunächst beschwichtigen. Als sie jedoch auf einem Fahndungsfoto seine Sporttasche wiedererkennt, legt er ihr gegenüber die Karten auf den Tisch: "Ja, ich bin Pumpgun-Ronnie." Aus der Liebesbeziehung wird Komplizenschaft. Nun kann Kastenberger seine kleine Wohnung in Wien-Währing, die er eigens für die Deponierung von Waffe und Maske angemietet hatte, aufgeben. Gemeinsam entscheiden sie, wie sie das Geld am gewinnbringendsten anlegen. Der Boulevard wird aus ihr "Ronnies Finanzberaterin" machen, später muss sie sich vor Gericht verantworten.

Festnahme und Flucht

Im Herbst 1988 war Kastenberger ins Visier der Fahnder geraten. Allerdings zunächst nicht wegen der Banküberfälle, sondern wegen eines drei Jahre zurückliegenden Mordfalls. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1985 war der damals 28-jährige Ewald Pollhammer in seiner Wohnung in Mautern bei Krems erschossen worden. Gemeinsam mit Kastenberger hatte er den WIFI-Kurs in St. Pölten besucht. Der fanatisch gesundheitsbewusste Marathonläufer war mit Pollhammer wiederholt in Streit geraten, weil dieser in den Kursräumen rauchte. Zwar war Kastenberger schon kurz nach der Tat einvernommen worden, aber erst jetzt waren Unstimmigkeiten, die damals ignoriert worden waren, ins Auge gestochen. Am 11. November 1988 wird Kastenberger während eines Trainingslaufs am Handelskai von der Polizei gestellt und (widerstandslos) festgenommen. Tags darauf gesteht er, seinen Kurskollegen ermordet zu haben. Er gesteht auch die Bankraubserie.

Vor der Protokollierung des Geständnisses bittet Kastenberger die beiden Kriminalbeamten um eine Tasse Tee. Man kommt seiner Bitte nach, möchte das gute Gesprächsklima nützen, nimmt ihm die Handschellen ab. Die Beamten sind kurz unachtsam. Kastenberger ergreift die Gelegenheit, hechtet zum nicht gesicherten Fenster des Verhörzimmers im ersten Stock, reißt einen Flügel auf und springt in sein letztes Rennen.

Inszenierter Stau

Der Sprung markiert auch die mediale Transformation vom insgeheim bewunderten Outlaw zum "Killer und Millionenräuber". Bald sind ihm 400 Polizisten, 34 Diensthunde und drei Hubschrauber auf den Fersen. Doch Kastenberger kommt zunächst davon.

In Sittendorf erkennt ihn ein Gendarm nicht und lässt ihn vorbeilaufen. Er bricht in ein unbewohntes Einfamilienhaus ein und versorgt sich mit neuer Kleidung. Bei Sparbach überwältigt er zwei Polizeibeamte und nimmt einem von ihnen die Waffe ab. Am 15. November 1988, dem vierten Tag seiner Flucht, stiehlt Kastenberger in Maria-Enzersdorf ein Auto. "Das war sein größter Fehler", sagte Einsatzleiter Franz Polzer seinerzeit dem "Profil", "nun war er für uns leichter verfolgbar."

Literarische Verarbeitung von Kastenbergers Leben durch den österreichischen Schriftsteller Martin Prinz.

Nach zwanzig Minuten ist der Tank leer. Kastenberger setzt seine Flucht zu Fuß fort, stiehlt in Kirchstetten den VW Golf des Vizebürgermeisters und rast auf der Autobahn Richtung Westen. Bei St. Pölten fährt er in einen von der Polizei inszenierten Stau. Ein Schuss eines Polizisten trifft ihn im Rücken. Wenig später setzt Kastenberger seine Pistole an seine rechte Schläfe und drückt ab. Seinen letzten Run, von einer ganzen Na-tion verfolgt, hat er nach 68 Stunden selbst beendet. Wie eine Trophäe wird der zur Strecke Gebrachte den Medien präsentiert.

Der Fall Kastenberger findet auch Einzug in Literatur und Film. Der österreichische Schriftsteller Martin Prinz nimmt ihn als Vorlage für seinen 2002 erschienen Roman "Der Räuber", acht Jahre später wird das Buch von Benjamin Heisenberg mit Andreas Lust in der Hauptrolle verfilmt. Einsatzleiter Franz Polzer bekommt es als nachmaliger Chef des niederösterreichischen Landeskriminalamtes mit weiteren prominenten Fällen zu tun: Kampusch, Fritzl und die Tragödie von Annaberg, bei der 2013 drei Polizisten und ein Rettungsfahrer von einem Wilderer erschossen wurden. Vera J. eröffnet später in der Nähe von Wien ein Gasthaus.

Man würde sich wünschen, Kastenberger wäre mit seiner größten sportlichen Leistung in Erinnerung geblieben: der Sieg von Kainach in 3:16:07 Stunden. Keiner vor ihm und keiner nach ihm ist auf dieser Strecke jemals schneller gelaufen.

Thomas Karny, geboren 1964, ist
Sozialpädagoge, Autor und Journalist. Mehrere Buchveröffentlichungen zur Zeit- und Motorsportgeschichte. Lebt in Graz.