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Höllenarbeit auf der "Schlachtschiffinsel"

Von Sonja Blaschke

Reflexionen
Die Kohlemine auf Hashima (Beiname Gunkanjima) wurde im Jahr 1974 stillgelegt und die Insel dem Verfall preisgegeben.
© Kntrty/CC BY 2.0

Der düstere Charme der Ruinen auf der westjapanischen Insel Gunkanjima zieht heute viele Touristen in den Bann. Einst wurde hier Kohle gefördert.


Mit seiner schwarzen Schirmmütze, auf der in goldener Farbe die Umrisse eines Schlachtschiffes aufgedruckt sind, könnte der weißhaarige Senior glatt als Kapitän in Rente durchgehen. Hinter Tomoji Kobata, der eine Regenjacke und weiße Handschuhe trägt, ragt ein Betonklotz sieben Stockwerke in die Höhe. An vielen Stellen fehlen die Außenwände. Der bröckelnde Betonwürfel gibt den Blick auf die tragende Stahlkonstruktion frei. Diese rostet seit Jahrzehnten, von den Elementen verformt, vor sich hin. "Dort habe ich einmal gewohnt", sagt der 77-Jährige und deutet nach oben. "Im vierten Stock, ganz außen rechts." Es war das erste Hochhaus in Japan, gebaut vor über 100 Jahren auf einer winzigen Insel, tausend Kilometer westlich der japanischen Hauptstadt Tokyo.

Eine vierzigminütige Bootsfahrt vom geschützten Hafen Nagasaki entfernt, liegt Hashima. Die Insel ist trotz mehrerer Aufschüttungen nur 6,3 Hektar groß, vergleichbar mit acht Fußballfeldern. Seit 40 Jahren ist sie unbewohnt. Umso schwerer ist es, sich vorzustellen, dass der befestigte Felsklotz einmal der am dichtesten besiedelte Ort der Welt war. Ende der 1950er Jahre lebten dort rund 5300 Menschen, nicht nur Arbeiter, sondern auch deren Familien.

Was diese auf den unwirtlichen Flecken Land 15 Kilometer vor der Küste gelockt hatte, war eine Kohlemine, die der Vorläufer des japanischen Megakonzerns Mitsubishi dort betrieb. Zu den besten Zeiten der Mine zwischen 1950 und 1970 lag die Bezahlung weit über dem japanischen Durchschnitt. Dafür nahmen viele die harten Arbeitsbedingungen auf sich.

James-Bond-Kulisse

In Kobatas Fall war es nicht das Geld, das ihn angelockt hatte. Ein Onkel hatte ihm eine Schreibtischarbeit versprochen. Stattdessen erwartete ihn ein Knochenjob an einem der gruseligsten Arbeitsplätze der Welt. Nicht nur, dass er in tiefer Finsternis unter Tage schuften musste. Auch über Tage musste er als Angestellter eines Sub-Subunternehmers die dreckigsten Aufgaben verrichten. Zu den schlimmsten Tätigkeiten habe es gehört, die Gemeinschaftslatrinen mit Kübeln, die sie ins Meer kippten, zu leeren. "Man hatte noch Stunden später das Gefühl zu stinken", erinnert er sich mit Schaudern.

Die Kohlemine Hashima ist bekannter unter dem Beinamen "Gunkanjima", was "Schlachtschiffinsel" bedeutet: Umgeben von meterhohen Betonmauern, die die Anlage bei Stürmen vor hohen Wellen schützen sollen, ragen einige Dutzend mehrstöckige, halbverfallene Gebäude in die Höhe. Die Silhouette ähnelt einem alten Kreuzer. Weltweiten Ruhm erlangte die eng bebaute Geisterinsel mit ihrem Gänge-Labyrinth als Schauplatz des James-Bond-Films "Skyfall". Vor Ort drehen durfte das Team wegen Einsturzgefahr der Gebäude allerdings nicht; die Kulisse wurde andernorts nachgebaut.

Trotz schwarzer Zahlen wurde die Mine 1974 geschlossen und die Insel dem Verfall preisgegeben. Niemand besuchte sie, außer Fans von Ruinen, die sich heimlich hinschlichen und fotografierten. Erst seit 2009 ist Gunkanjima für Besucher geöffnet. Diese dürfen sich dort aber nur weniger als eine Stunde aufhalten. Sie müssen sich auf einem eingezäunten Weg bewegen, etwa 50 Meter entfernt von den maroden Bauten. An unserem Besuchstag spazierten Arbeiter zur Inspektion über die Mauer; Kräne waren aufgestellt. Immer wieder finden Ausbesserungsarbeiten statt. Die Natur fordert ihren Tribut. Den Mangel an Bewegungsfreiheit versüßt Kobata den Besuchern mit seinen Anekdoten. Er arbeitet seit einigen Jahren als Touristenführer bei "Gunkanjima Concierge", einem der größten Tour-Anbieter. Mit viel Charme und Witz führt er die Besucher in die Zeit vor 50, 60 Jahren zurück. Assistenten zeigen Kopien alter Schwarzweißfotos.

Damals, erzählt Kobata, mussten sich die Arbeiter vor der Schicht einer strengen Leibesvisitation unterziehen, damit keiner in die Versuchung käme, Zündholzer oder Tabak mitzunehmen. Das könnte eine Gasexplosion auslösen. Danach ging es, mit Helm und Stirnlampe auf dem Kopf, ab in den Schacht. "Er war 600 Meter tief, etwa so hoch wie der Tokyo Sky Tree", zieht Kobata den Vergleich zum Fernsehturm in Tokyo - mit 634 Metern das zweithöchste Gebäude der Welt.

Diese Distanz legten die Arbeiter in einer Art Aufzug in nur drei Minuten zurück. "Weil das Gefährt keine Wände hatte, spürten wir den Winddruck. Es zerriss einem fast die Ohren, mir wurde schlecht. Als ich das Ding das erste Mal bestieg, bekam ich Panik", erinnert sich Kobata. "Unten angekommen dachte ich, vorne an der Hose ist es doch ein wenig feucht geworden", fügt er grinsend hinzu. Die Besucher kichern.

Weiter ging es mit Loren, die Kilometer lange Gänge entlangsausten, 30, 40 Minuten lang. Um die Batterie zu sparen, schalteten alle ihre Stirnlampen aus. Zum Schluss folgten einige Hundert Meter zu Fuß. Tief unter dem Meeresboden war es um die 35 Grad heiß, die Luftfeuchtigkeit betrug über 95 Prozent. "Sobald man unter Tage ging, lief einem nach nicht einmal 30 Minuten, selbst wenn man nicht gearbeitet hatte und nur still gestanden war, der Schweiß in Sturzbächen hinunter. Nach einer Stunde waren die Arbeitsklamotten klatschnass", erzählt Kobata. Überall am Körper klebte der Kohlestaub. Schwarz wie Bären seien sie nach ihrer Schicht gewesen.

Schottische Technologie

"Was glauben Sie, was wir gemacht haben, wenn wir uns 1000 Meter unter dem Meeresboden erleichtern mussten?", fragt Kobata in die Runde. Er weiß, wie er die Zuhörer bei der Stange hält. "Das Geschäft an Ort und Stelle verrichten", sagt eine Frau. Sie trifft ins Schwarze. Kobata imitiert die Scharrgeräusche einer Katze nach ihrer Toilette. So hätten sie es auch gemacht. Und dabei jedes Mal gehofft, dass die Hinterlassenschaften nicht eines Tages an die Oberfläche gelangen würden.

Kohle aus solchen Tiefen zu fördern, wurde in Japan erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dank neuer Technologien möglich. Japan hatte sich 1853 nach über 200 Jahren Abschottung gegenüber der Außenwelt geöffnet. Nach der Meiji-Restauration, die die Samurai-Herrscher entmachtete und den Kaiser wieder einsetzte, modernisierte sich das Land in Windeseile. Bereitwillig importierte Japan Ideen und Fachkräfte.

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In Nagasaki war es der schottische Industrielle Thomas B. Glover, der die Region maßgeblich beeinflusste. Er brachte die Technologie mit, um Kohle in großen Tiefen abzubauen. Noch heute ist Glovers Name im Raum Nagasaki bekannt. Seine Villa, die in einer idyllischen Anlage mit anderen Gebäuden im westlich-japanischen Stil liegt, lockt viele Besucher an. Im Juli 2015 wurde der "Glover Garten" mit Gunkanjima und 22 weiteren Orten, die für Japans Modernisierung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts stehen, ins Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen.

Fast wäre es nicht zu dieser Auszeichnung gekommen. Korea hatte dagegen protestiert. Denn von dort kamen viele Arbeiter, die im Krieg in der Mine arbeiteten - keineswegs freiwillig. Korea war von 1910 bis 1945 unter japanischer Herrschaft. Schließlich einigten sich Japan und Korea bilateral auf einen Kompromiss bei der Formulierung der Bewerbung.

Weil viele junge Japaner als Soldaten im Krieg waren, hatte der Staat damals auf Drängen der Industrie Zwangsarbeiter von der koreanischen Halbinsel und aus China rekrutiert. Diese lebten im Gegensatz zu den Japanern in windigen Holzbaracken, die kaum den jährlichen Taifunen standhielten, erklärt der emeritierte Professor Yasunori Takazane. Die Arbeiter hätten nur sehr wenig zu essen gehabt und viel zu wenig Nährstoffe bekommen, sagt Takazane. Er zeigt auf Nachbildungen des Essens aus Plastik in einem kleinen Museum in Nagasaki, das sich dem Schicksal der Zwangsarbeiter widmet. Viele überlebten diese Tortur nicht.

Kobata spart diesen Teil der Geschichte nicht aus: Von 1800 Arbeitern Anfang der 1940er Jahre sei knapp die Hälfte nicht-japanischer Herkunft gewesen. "Diese Leute haben mit ihrem Einsatz die japanische Industrie unterstützt", sagt Kobata auf seiner Tour. "Wenn Sie auf dieser Insel umhergehen, schließen Sie diese bitte in Ihrem Gedenken an die Opfer ein."

Lebensbedingungen

1961, als Kobata hier ankam, hatten sich die Lebensbedingungen im Vergleich zur Kriegszeit stark verbessert. Es sei zwar "nicht wie im Paradies" gewesen, aber doch sehr gut. Wasser, Gas und Strom gab es so früh wie kaum sonst in Japan. Die Haushalte freuten sich über die neusten Geräte wie Waschmaschinen und Fernseher. Strom war kostenlos, genauso wie zwei Flaschen Gas im Monat. Es gab viele Kneipen, und im Inselkino liefen die neusten Filme. Selbst Arbeiter wie Kobata, die nicht beim Hauptkonzern direkt angestellt waren, bekamen doppelt so viel bezahlt wie anderswo.

Allen Annehmlichkeiten zum Trotz litten die Inselbewohner sehr unter der Enge. Kobata musste sich als alleinstehender Mann ein weniger als zehn Quadratmeter kleines Zimmer mit drei weiteren ledigen Minenarbeitern teilen. Mit damals 24 Jahren war er der Jüngste im Raum und in der Hierarchie ganz unten. "Ich musste im begehbaren Schrank schlafen."

Privatsphäre gab es kaum. Wer das öffentliche Telefon benutzte, dem hörten alle in der Schlange zu. Kamen sich junge Leute näher, dann blieb ihnen als einziger Platz für ein Rendezvous die zwei Meter breite und zehn Meter hohe Mauer rund um die Insel. Nur waren sie damit direkt unter den Augen der Kinder, die auf den zu Spielplätzen umfunktionierten Dächern der Häuser herumtollten. "Natürlich konnten es die Kinder nicht lassen, die Pärchen zu stören", erinnert sich Kobata lachend. Er spricht offenbar aus Erfahrung.

Aber trotz oder vielleicht gerade wegen der Enge hätten sich die Inselbewohner immer wie in einer großen Familie gefühlt. "Wenn jemand krank war, halfen wir uns gegenseitig und kümmerten uns zum Beispiel um die Kinder", sagt Kobata. Es habe nur wenig Krach gegeben. Die einzige Gefängniszelle sei nur zur Ausnüchterung benutzt worden. Niemand habe sein Zimmer jemals abgeschlossen.

Wenn er die Insel heute besuche, stimme ihn der Zerfall seiner "zweiten Heimat" traurig, sagt Kobata. Gunkanjima lasse ihn die Zukunft der Erde erspüren. "Als die Kohle ausging, konnten die Menschen nicht mehr auf der Insel wohnen. Das ist das Gleiche bei den Rohstoffen der Erde. Irgendwann gehen sie aus. Dann muss man fürchten, dass die Erde einmal wird wie Gunkanjima jetzt. Aber wohin können die Menschen dann gehen?", fragt Kobata rhetorisch. "Ich möchte, dass das, was auf dieser Insel passiert ist, allen eine Lektion ist."

Sonja Blaschke lebt als freie Journalistin seit Jahren in Tokyo.