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Ein fast perfekter Mord

Von Wolfgang Machreich

Reflexionen
Erinnerung an einen Untoten: Holmes-Statue vor der Kirche von Meiringen (CH).
© Machreich

Vor 125 Jahren ließ Arthur Conan Doyle seine Erfindung Sherlock Holmes in den Tod stürzen. Doch die Totenruhe währte nur kurz.


Diese Geschichte handelt vom seltenen Fall eines perfekten Mordes, der zum Glück des Mörders misslungen ist. Schuld daran hatte der Reichenbachfall beim Dorf Meiringen im Berner Oberland.

Hätte der Täter das Opfer gefragt, niemals wäre die Wahl auf diesen Schweizer Tatort gefallen. Sherlock Holmes hätte Arthur Conan Doyle mit Sicherheit abgeraten, ausgerechnet beim Tod des Meisters von Sachlichkeit, Analyse und Deduktion auf Action zu setzen: "Es ist ein Ort zum Fürchten", beschrieb Sherlocks Alter Ego Dr. Watson den Wasserfall:

"Der Gießbach stürzt sich, vom Schmelzwasser angeschwollen, in eine ungeheure Schlucht, aus der Gischt aufwogt wie Rauch aus einem brennenden Haus." Das Naturspektakel begeisterte den Schöpfer des Meisterdetektivs, sodass er von seinem ursprünglichen Plan abließ, Holmes in einer Gletscherspalte verschwinden zu lassen. Ein Fehler, der Doyle reich und Holmes wieder lebendig machen sollte. Aber dazu später, noch handelt diese Geschichte vom Tod.

Ehrenbürger Holmes

Bereits auf der Ortstafel wirbt Meiringen mit seinem weltberühmten (Un-)Toten. Und folgerichtig ernannte die Ortschaft Holmes und nicht Doyle zum Ehrenbürger. In Bronze gegossen, in Lebensgröße und Pfeife rauchend sitzt er vor der Englischen Kirche. Umgewidmet in ein Museum für Devotionalien aus dem Krimi-Reich des Detektivs ist das Kirchlein neben der Londoner Baker Street 221b ein Wallfahrtsort für "Sherlockianer" aus aller Welt.

Schon die Hinweistafel zeigt den prominentesten Fall des Falles . . .
© Machreich

Damit diese kulinarisch in der Geschmacksrichtung ihres Helden bleiben und nicht mit Schweizer Spezialitäten fremd gehen müssen, bietet das Gasthaus oberhalb des Wasserfalls ein "Sherlock-Holmes-Monster-Dinner". Wenigstens der Kirchplatz ist nach Doyle benannt. Ein touristischer Abstecher während einer Vortragstournee durch die Schweiz im Sommer 1893 führte den Autor ins Berner Haslital. Als er am Reichenbachfall dem Wasser auf seinem Sturz in die Tiefe nachschaute, hatte er die Antwort auf seine drängendste Frage vor Augen - in sein Tagebuch schrieb er: "Killed Holmes".

Wobei allein schon aus finanzieller Sicht Doyles Hass auf Holmes unverständlich war. Denn so wie für das heutige Holmes-Merchandising in Meiringen oder Baker Street war der Detektiv für seinen Erfinder ein Goldesel, mit dem er sich ein herrschaftliches Leben und seine andere, für ihn bedeutendere "echte" Schriftstellerei finanzieren konnte. Mit jeder neuen Holmes-Episode schraubte Doyle seine Honorare in die Höhe - in der Hoffnung, die Verleger würden ablehnen und den Holmes-Spuk von sich aus beenden. Doch die Magazine zahlten jeden Preis, und Doyle schrieb neben den Entschluss, seine Schöpfung zu töten, ins Tagebuch: "Es war mir klar, dass ich damit auch mein Bankkonto in dem Wasserfall versenkte."

Der Steig neben dem 120 Meter hohen Reichenbachfall hinauf zum Ort des Verbrechens ist steil. Arthur Conan Doyle muss wie viele britische Schweiz-Touristen der damaligen Zeit ein schneidiger Wanderer gewesen sein. Die Standseilbahn wurde erst Jahre nach seinem Besuch eröffnet. "Man hat den Pfad halb um den Fall in die Felsen geschnitten, um einen guten Blick zu ermöglichen", steht in Dr. Watsons Tatortbeschreibung: "Das Niederrauschen des grünen Wassers und der dichte Vorhang des aufstiebenden Gischts, das stete Wirbeln und Tosen machen einen schwindeln." Damals. Und heute?

Empörte Holmes-Fans

Der Wasserfall ist da, so wie die je nach Jahreszeit mehr oder weniger schäumende Gischt. Doch Schwindel, Furcht und Absturzgefahr werden 125 Jahre nach Doyles Tatortwahl von einem Geländer samt Maschendrahtzaun gezähmt. Heute würde der Autor auf der Suche nach dem "angemessenen Grab" für seine Figur ob der Sicherheitsvorkehrungen enttäuscht ins Dorf zurück stapfen und beim Gletschermord bleiben.

Der Protest, ja Hass der Legionen von Sherlock-Holmes-Fans wäre ihm aber - egal wie und wo er seinen Helden getötet hätte - nicht erspart geblieben. "Sie Scheusal!" begann eine Leserin ihr Schreiben an Doyle, nachdem dieser in der Weihnachtsausgabe 1893 der britischen Literaturzeitschrift "The Strand Magazines" Holmes im Zweikampf mit Professor Moriarty, dem "Napoleon des Verbrechens", in den Tod stürzen ließ. Zigtausende Leser in Großbritannien und Amerika waren nach der Lektüre von "The Final Problem" außer sich, weinten öffentlich und gingen mit schwarzen Armbinden und Trauerflor an den Hüten auf die Straße. Zwanzigtausend kündigten das Abonnement; sogar der Prince of Wales soll zutiefst bestürzt gewesen sein.

Doch Arthur Conan Doyle konnte nicht anders. Sherlock Holmes musste sterben, bevor dieser den Autor vollends ins Abseits drängte. Doyles literarisches Ansehen stand auf dem Spiel. Sherlock Holmes war schon lange nicht mehr nur eine Romanfigur. Der Detektiv war für die Leser beinahe wirklicher als der Autor selbst. Viele konnten und wollten Fantasie und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. Warum sollten sie sonst Anfragen, Bittschreiben oder Gratulationen an einen fiktiven Detektiv und seine fiktive Londoner Adresse Baker Street 221b schicken? Selbst seriöse Zeitungen fragten angesichts ungeklärter Verbrechen: "Wo ist Sherlock Holmes? Ist die Polizei überhaupt in der Lage, diesen Fall allein zu lösen?"

Die Handlung als auch die Charaktere und ihre Eigenschaften für seine Sherlock-Holmes-Geschichten schöpfte Doyle vorwiegend aus dem eigenen Leben. Das Vorbild für Holmes hatte Doyle während seines Medizinstudiums in Edinburgh getroffen: Dr. Joseph Bell, Dozent in Klinischer Chirurgie, war aufgrund seiner unorthodoxen Unterrichtsmethoden berühmt. Bell lehrte seinen Studenten, ihre Beobachtungsgaben zu schärfen, damit sie aufgrund winziger Details Herkunft, Hintergrund und Zustand ihrer Patienten erfassen und die Behandlungsmethoden dementsprechend ausrichten konnten.

Durch ein Zeitungsinterview erfuhr Bell von seiner Vorbildfunktion für Sherlock Holmes. "Und auch wenn ich in den Geschichten den Vorteil habe, ihn in alle möglichen dramatischen Situationen versetzen zu können", schrieb Doyle in einem Briefwechsel mit Bell, "so glaube ich doch nicht, dass sein analytisches Vermögen im Geringsten übertrieben ist, wenn man es mit den Ergebnissen vergleicht, die ich Sie im Rahmen Ihrer Patientenkonsultationen habe erzielen sehen."

Bell wurde daraufhin über Nacht zum Kriminal-Experten, die Polizei konsultierte ihn - und er trat als Zeuge in Gerichtsprozessen auf; ein gar nicht so kleines Publikum glaubte felsenfest, der Medizindozent im Ruhestand sei tatsächlich - Consulting Detective Sherlock Holmes.

Fiktion als Realität

Der beschriebene Eisenzaun an der Kanzel des Reichenbachfalls verhindert heute, dass es Nachahmungstätern zu leicht fällt, sich mit ihren Erzfeinden die Gischt hinunter zu stürzen. Eine Bronzeplakette und ein Plastikblumenkranz mit Parte erinnern an das vermeintliche Ende des Meisterdetektivs und seines ebenbürtigen Widersachers. Aber kein Geländer hindert daran und keine Aufschrift warnt davor, die Geschichten von Sherlock Holmes für bare Münze zu nehmen. Im Gegenteil: Meiringen wie Baker Street 221b inszenieren die Fik- tion als Realität - mit großem Erfolg, so wie Holmes-Neuverfilmungen und -Theaterinszenierungen nach wie vor boomen.

Auch in London gibt es eine Statue für den Meisterdetektiv.
© Machreich

Warum? In der Holmes-Erklärliteratur findet sich diese Antwort: Weil es einen Sherlock Holmes einfach geben muss. Geschaffen in der unsicherheitsschwangeren Endphase des viktorianischen Zeitalters, vermittelt diese logische Denkmaschine ein Gefühl von Sicherheit. In Fortsetzung des Artikels in der "Wiener Zeitung" über "Jack the Ripper" mit dem Titel "Projektionsfläche der Angst", in dem Sherlock Holmes als Urform des Profilers bezeichnet wird, war und ist der Meisterdetektiv eine "Projektionsfläche der Sicherheit". Oder wie Holmes seinen Begleiter Dr. Watson belehrt: "Verbrechen ist üblich, Logik ist selten. Darum ist es weit mehr die Logik als das Verbrechen, mit dem Sie sich befassen sollten."

Reine Vernunft besiegt das Chaos des Verbrechens. Das beruhigt. Holmes: "Wenn Sie alles eliminiert haben, was unmöglich ist, dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein." Logisch. So einfach kann die Welt für einen Meisterdetektiv sein.

Die Auferstehung

Einfacher wurde auch Doyles Leben ohne seinen Meisterdetektiv. Endlich frei, widmete er sich unter anderem seinen Schriften über den Buren-Krieg, für die er 1902 zum Sir geadelt wurde. Persönlich, so hieß es, verehrte König Edward VII. Doyle mehr als Schöpfer von Sherlock Holmes. Und lange mussten der König, sein Volk und die Holmes-Fans weltweit nicht auf die Auferstehung ihres Helden warten.

"Very well. A. C. D." Kurz und eindeutig war die Antwort, die Doyle im Frühjahr 1903 an die US-Zeitung "Collier’s Weekly" schickte, die ihm 45.000 Dollar für die Auferstehung von Holmes und 13 Geschichten geboten hatte. "The Strand Magazine" lockte mit einer ähnlich großen Summe für die englische Ausgabe dieser Stories. Sein großes Haus und seine vielen teuren Hobbys mochten das Ihre zum Sinneswandel beigetragen haben. Es dauerte jedenfalls nicht lange - und Sherlock Holmes tauchte putzmunter in "The Empty House" wieder auf und erklärte seine Auferstehung.

Nur Moriarty war den Reichenbachfall hinunter gestürzt. Holmes hatte den Gegner mit der (nur Doyle bekannten!) japanischen Kampfsporttechnik "Baritsu" bezwungen und sich in den glatten, überhängenden Felsen versteckt. Danach reiste er nach Asien und besuchte dort unter anderem den Dalai Lama . . . So einfach kann die Welt für einen Meisterdetektiv und seinen Erfinder sein. Für die Sherlockianer war sie jedenfalls wieder vollständig - genauso wie für Dr. Watson, der an der Seite des Meisterdetektivs über zwei Dutzend weitere Fälle lösen konnte: ",Exzellent!‘ rief ich. ,Elementar‘, sagte er. ,Watson, die Jagd beginnt!‘"

Mit der Zeit versöhnte sich auch Doyle mit seiner bedeutendsten literarischen Figur. Er ließ sie nirgends mehr hinunterstürzen, sondern gönnte Holmes als Bienenzüchter einen geruhsamen Ausstieg aus der Welt des Verbrechens. 1930 starb Arthur Conan Doyle - seinen Sherlock Holmes nahm er drei Jahre nach dessen definitiv letztem Auftritt in "Shoscombe Old Place" mit ins Grab.