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Der Kampf der Kickboxerin Lina

Von Markus Schauta

Reflexionen

Sie ist die einzige professionelle Kickboxerin in ganz irakisch Kurdistan - und kämpft als solche auch gegen gesellschaftliche Vorurteile.


Als Frau in einer Männerwelt aus Muskeln und Schweiß: Kickboxerin Lina in Erbil.
© Schauta

Aufgeregt sei sie. Und lacht. Doch am liebsten würde Lina jetzt weinen. Ein Backstagebereich der "Babylon Hall" in Erbil. Durchgesessene Sofas, Boxhandschuhe und Wasserflaschen über den Boden verstreut. In einer Ecke bearbeitet ein Schwergewicht in Shorts einen Sandsack: Prack, prack, prack.

Das "Black Mamba" auf Linas T-Shirt, der Name ihres Sport-Clubs, will so gar nicht zur 17-Jährigen mit den Stirnfransen passen. Während ihr die Zwillingsschwester das lange schwarze Haar zu zwei strammen Zöpfen flicht, ist Linas Blick starr geradeaus gerichtet. Als sehe sie den Kampf vor sich. Den letzten, den sie verloren hat. Und den bevorstehenden, vor dem sie Angst hat. Später wird sie sagen, dass sie kurz davor war, loszuheulen.

Lina ist die einzige professionelle Kickboxerin in ganz irakisch Kurdistan. Vor knapp zwei Jahren hat sie die Männerwelt Kampfsport betreten. Eine Welt aus Muskeln und Schweiß. Lina, Federgewicht mit 51 Kilogramm, musste mit Sparringpartnern trainieren, die zwei Köpfe größer und schwerer sind und deren Schläge ungleich härter treffen.

Lina wartet. Die Mikrofonstimme des Moderators, das Geschrei des Publikums und die Metal-Musik hallen nur gedämpft bis hier hinten. Sie hätte bereits vor einer halben Stunde in den Ring steigen sollen, doch ihre Gegnerin hat sich verspätet. Dann steht Mohammed Qays neben ihr. Der 34-Jährige leitet das Box-Gym "Black Mamba", wo er Freizeitsportler und Profis trainiert. Nachdem Lina vom Crossfit zum Sportboxen wechselte, sah er, dass sie Talent hatte und rasch lernte. Es folgte ein Amateurkampf und letztes Jahr im September ihr erster professioneller Fight. Qays, Teilrasur und kurzer Vollbart, ist selbst aktiver Kickboxer. Heute hat er sein Muscle-Shirt und die Trainingshose gegen einen schwarzen Anzug getauscht. "Sie ist hier", sagt er. Wortlos gehen sie durch einen dunklen Gang nach vorne. Die Musik wird immer lauter, dann geht es hinaus in die Halle, wo der Ring im grellen Scheinwerferlicht wartet.

"Mein Vater weiß nicht viel über das, was ich hier mache", sagt Lina.
© Schauta

Die "Babylon Hall", eine Veranstaltungshalle am Rande von Erbil, ist für ihre Hochzeitsfeiern in Pink und Weiß bekannt. Wo an anderen Tagen die Tafel des Brautpaares steht, mit mehrstöckigen Torten und Blumengestecken, ist heute der Ring aufgebaut. Eine Kamera am Schwenkarm überträgt die Fight Night live, fängt die verschwollenen Gesichter der Kickboxer ein. Wenn sie Schläge und Tritte einstecken, der Schweiß spritzt, Gesichter entgleisen. Bis einer zu Boden geht, oder am Ende der dritten Runde einen Sieg durch Punktewertung erringt.

Während in den USA und Europa bereits in den 1970ern die ersten Kickboxer in Meisterschaften gegeneinander antraten, wurde der Sport in Kurdistan erst in den letzten Jahren populär. Etwa 300 Zuseher haben sich heute Abend in der Halle versammelt. Zigarettenqualm hängt über den Tischen, man trinkt Bier und Wasser. In den Pausen zwischen den Kämpfen fetzt die Metal-Band Dark Phantom auf der Bühne.

Blaue Lichtstrahlen irren durch den Kunstnebel. Das Mikro des Moderators hängt an einem langen Kabel von der Decke, seine Stimme kracht aus den Lautsprechern. Geklatsche und Pfiffe, als er die Kontrahentinnen vorstellt. Noch wenige Sekunden bis zum Fight. In ihrer Ecke des Rings erhält Lina letzte Anweisungen von Trainer Qays. Sie nickt stumm, ein Betreuer schiebt ihr den Gebissschutz in den Mund. Lina mustert ihre Gegnerin mit dem eng um den Kopf gewickelten Tuch in der Ecke gegenüber. Sie weiß von ihr nur, dass sie aus dem Iran kommt. Und dass sie um fast einen Kopf größer ist als Lina.

Die Glocke läutet die erste Runde ein. Lina tänzelt in die Ringmitte, reißt ihren linken Arm hoch, um einen Fußschlag der Iranerin abzuwehren. Doch ihre Gegnerin ist schneller. Treffer am Kopf. Benommen weicht sie zurück, geht hinter ihren pinken Handschuhen in Deckung. Das Geschrei und Gejohle der Zuschauer hört sie nicht mehr. Ebenso wenig die Stimme ihres Coaches, der immer wieder "Fuß! Fuß!" brüllt. Sie solle ihre Low-Kicks gegen die Oberschenkel der deutlich größeren Gegnerin einsetzen. Lina kassiert immer weitere Schläge und Kicks. Zwei Minuten Ewigkeit. Dann der erlösende Klang der Glocke. Die erste von drei Runden ist überstanden.

Tschak, tschak, tschak. Jedes Mal, wenn Linas Springseil auf den Boden schnalzt, heben sich ihre Füße für den Bruchteil einer Sekunde wenige Zentimeter in die Luft. Bis Schweiß auf ihrer Stirn glänzt. Im Hintergrund scheppern Langhanteln.

Der Crossfit- und Kampfsport-Club "Black Mamba" ist in einer Lagerhalle im Industriegebiet Erbils untergebracht. Vorne beim Eingang die Rezeption, am anderen Ende der Ring. Dazwischen Fitness-Training. Für Lina begann alles mit Crossfit. Um Gewicht zu verlieren, wie sie sagt. Mit ihrer Schwester sei sie anfangs hierhergekommen. Doch die verlor bald das Interesse. Und Lina entdeckte ihre Kampfsportfaszination.

Gegenwind

"Mein Vater weiß nicht viel über das, was ich hier mache", sagt Lina, die im christlich geprägten Stadtteil Ainkawa aufgewachsen ist. "Er denkt, ich mache etwas wie Karate." Aber ihre Mutter wisse Bescheid. Sie sei auch zu ihrem ersten Kampf gekommen. "Doch auch sie ist nicht sehr froh, dass ich boxe." Sie glauben, sie sei noch zu jung für den Sport und könnte Schäden davontragen.

Kampf Frau gegen Frau . . .
© Schauta

Doch da Linas Erfolge in der Schule unverändert gut sind, tolerieren die Eltern den Sport ihrer Tochter. In der Schule löste ihre Leidenschaft für Kampfsport Verwunderung aus. Warum sie so etwas mache? Ihr Körper werde bald wie der eines Mannes aussehen. Ihre Schultern seien bereits zu breit für ein Mädchen. "Da gab es viele Kommentare zu meinen Schultern", sagt Lina und lacht. "Aber jetzt sind sie stolz auf mich."

Das Problem seien die Reaktionen von Leuten, die sie gar nicht kenne. Das Video von ihrem ersten Kampf provozierte einen Shitstorm. In zahllosen Kommentaren wütete ein anonymer Mob gegen die junge Frau. Als Mädchen habe sie nichts im Kampfsport verloren. Die Kritik richtete sich gegen ihre Shorts, die nach Ansicht der Kommentatoren viel zu kurz gewesen seien, und gipfelte in Beschimpfungen wie Schlampe und Hure. "Ich habe viele Beleidigungen ertragen müssen", sagt Lina. Coach Qays ließ das Video einen Tag später vom Netz nehmen.

Und dabei handelt es sich nicht nur um ein paar Internet-Trolle, wie Delair Jabari weiß. Der Mittvierziger, Brille und kurzer Bart, ist Frauenrechtsaktivist und arbeitet bei einer kurdischen Menschenrechtsorganisation. Seinen Kaffee trinkt er in den hippen Bars von Ainkawa. In dem als liberal bekannten Stadtteil bevölkern Frauen und Männer gleichermaßen die Cafés, tippen am Laptop, rauchen Shisha, plaudern.

Gesellschaftlichen Gegenwind bekommen vor allem jene Frauen zu spüren, die aus den üblichen Rollenklischees ausbrechen wollen, so Jabari. Wie Lina, die sich mit ihren öffentlichen Auftritten als Kickboxerin in eine Domäne begibt, die viele als den Männern vorbehalten sehen. In einer immer noch patriarchal geprägten Gesellschaft werde so etwas oftmals nicht toleriert. "Und selbst wenn die Eltern dahinterstehen, kann der gesellschaftliche Druck hoch sein", so Jabari.

Junge Frauen wie Lina, die an Wettkämpfen teilnehmen, bleiben nicht unbemerkt. Es gibt Übertragungen im TV, Fotos und Videos im Internet. So etwas spricht sich herum. Dann ruft der Nachbar an, in der Arbeit ist es Gesprächsthema, die Verwandten melden sich. Bewege der Vater sich in einem konservativen Umfeld, könne er ziemlich unter Druck gesetzt werden, so Jabari. "Dann vielleicht noch beleidigende Kommentare auf Social Media - irgendwann wird es ihm zu viel und er verbietet seiner Tochter, den Sport weiter auszuüben."

Das Problem sei die Kluft zwischen der rechtlichen Stellung der Frau und der Mentalität, die in großen Teilen der Gesellschaft immer noch vorherrsche. "In Kurdistan gibt es klare Gesetze, die die Rechte der Frauen sichern", sagt Jabari. Im Parlament sei eine starke Präsenz von Frauen per Quote geregelt. Das Heiratsalter liege offiziell bei 18 Jahren. Und es gebe zahlreiche Initiativen, um Gewalt und Zwang gegen Frauen zu unterbinden. Dennoch: "Im Alltag ist noch einiges zu tun."

Die Glocke ertönt

Frauen werden nach wie vor unter Druck gesetzt, sich religiösen Vorschriften oder patriarchalen Ideen von Gesellschaft zu unterwerfen. So werden in ländlichen Gegenden nach wie vor 13- und 14-Jährige an 50-jährige Männer verheiratet. "Für viele Männer ist die Frau immer noch diejenige, die das Haus putzt, kocht, ihm sexuell zur Verfügung steht und auf seine Kinder aufpasst."

Sagt die Frau dann Nein und besteht auf ihr Recht zu arbeiten und sich zu entfalten, könne das zu einem Problem werden. Trotzdem: "Ich bin optimistisch", sagt Jabari. Es gebe eine Reihe guter Entwicklungen. In immer mehr Schulen gebe es Sportunterricht für Mädchen. Und in Erbil spielen junge Frauen in Fußball- und Handball-Teams, die auch an internationalen Wettbewerben teilnehmen. "Das alles sind kleine Schritte", so Jabari. "Aber es geschieht etwas."

Das Nummerngirl stakst in High Heels das Seilgeviert entlang, eine Tafel in den Händen, die die nächste Runde anzeigt: "3". Lina hockt in ihrer Ecke, Trainer Qays kühlt ihr verschwollenes Gesicht mit kaltem Wasser. Er sucht ihren Blick, gibt ihr Anweisungen für die letzte Runde.

Dann ertönt die Glocke. Die Iranerin hat in der zweiten Runde an Kraft verloren. Lina kennt das von ihrem ersten Profi-Kampf, als sie sich anfangs auch völlig verausgabt hatte und ihr am Ende die Kondition fehlte. Sie weiß, dass jetzt ihre Zeit gekommen ist. Lina dominiert von der ersten Sekunde an, landet mehr Treffer. Am Ende der Triumph: Lina gewinnt durch Punktewertung. Unter Applaus vom Publikum hebt Coach Qays Lina auf seine Schultern.

Auch diesmal bleiben die gehässigen Kommentare im Internet nicht aus. Daran wird sich auch so rasch nichts ändern. Doch anders als nach ihrem ersten Kampf, treffen die Beleidigungen Lina nicht mehr. "Ich kümmere mich nicht darum", sagt sie. Linas erster Sieg in einem professionellen Wettkampf ist am Ende auch ein Sieg über jene Stimmen, die glauben, Frauen einen Platz zuweisen zu müssen. Ein kleiner Schritt, wie der Frauenrechtler Jabari sagt. Aber es geschieht etwas.

Markus Schauta studierte Geschichte und Religionswissenschaft mit Schwerpunkt Islam. Seit 2011 berichtet er als Reporter aus dem Nahen Osten. Seine Reportagen, Kommentare und Interviews erscheinen in deutschsprachigen Zeitungen und Magazinen.