Das Problem seien die Reaktionen von Leuten, die sie gar nicht kenne. Das Video von ihrem ersten Kampf provozierte einen Shitstorm. In zahllosen Kommentaren wütete ein anonymer Mob gegen die junge Frau. Als Mädchen habe sie nichts im Kampfsport verloren. Die Kritik richtete sich gegen ihre Shorts, die nach Ansicht der Kommentatoren viel zu kurz gewesen seien, und gipfelte in Beschimpfungen wie Schlampe und Hure. "Ich habe viele Beleidigungen ertragen müssen", sagt Lina. Coach Qays ließ das Video einen Tag später vom Netz nehmen.
Und dabei handelt es sich nicht nur um ein paar Internet-Trolle, wie Delair Jabari weiß. Der Mittvierziger, Brille und kurzer Bart, ist Frauenrechtsaktivist und arbeitet bei einer kurdischen Menschenrechtsorganisation. Seinen Kaffee trinkt er in den hippen Bars von Ainkawa. In dem als liberal bekannten Stadtteil bevölkern Frauen und Männer gleichermaßen die Cafés, tippen am Laptop, rauchen Shisha, plaudern.
Gesellschaftlichen Gegenwind bekommen vor allem jene Frauen zu spüren, die aus den üblichen Rollenklischees ausbrechen wollen, so Jabari. Wie Lina, die sich mit ihren öffentlichen Auftritten als Kickboxerin in eine Domäne begibt, die viele als den Männern vorbehalten sehen. In einer immer noch patriarchal geprägten Gesellschaft werde so etwas oftmals nicht toleriert. "Und selbst wenn die Eltern dahinterstehen, kann der gesellschaftliche Druck hoch sein", so Jabari.
Junge Frauen wie Lina, die an Wettkämpfen teilnehmen, bleiben nicht unbemerkt. Es gibt Übertragungen im TV, Fotos und Videos im Internet. So etwas spricht sich herum. Dann ruft der Nachbar an, in der Arbeit ist es Gesprächsthema, die Verwandten melden sich. Bewege der Vater sich in einem konservativen Umfeld, könne er ziemlich unter Druck gesetzt werden, so Jabari. "Dann vielleicht noch beleidigende Kommentare auf Social Media - irgendwann wird es ihm zu viel und er verbietet seiner Tochter, den Sport weiter auszuüben."
Das Problem sei die Kluft zwischen der rechtlichen Stellung der Frau und der Mentalität, die in großen Teilen der Gesellschaft immer noch vorherrsche. "In Kurdistan gibt es klare Gesetze, die die Rechte der Frauen sichern", sagt Jabari. Im Parlament sei eine starke Präsenz von Frauen per Quote geregelt. Das Heiratsalter liege offiziell bei 18 Jahren. Und es gebe zahlreiche Initiativen, um Gewalt und Zwang gegen Frauen zu unterbinden. Dennoch: "Im Alltag ist noch einiges zu tun."
Die Glocke ertönt
Frauen werden nach wie vor unter Druck gesetzt, sich religiösen Vorschriften oder patriarchalen Ideen von Gesellschaft zu unterwerfen. So werden in ländlichen Gegenden nach wie vor 13- und 14-Jährige an 50-jährige Männer verheiratet. "Für viele Männer ist die Frau immer noch diejenige, die das Haus putzt, kocht, ihm sexuell zur Verfügung steht und auf seine Kinder aufpasst."
Sagt die Frau dann Nein und besteht auf ihr Recht zu arbeiten und sich zu entfalten, könne das zu einem Problem werden. Trotzdem: "Ich bin optimistisch", sagt Jabari. Es gebe eine Reihe guter Entwicklungen. In immer mehr Schulen gebe es Sportunterricht für Mädchen. Und in Erbil spielen junge Frauen in Fußball- und Handball-Teams, die auch an internationalen Wettbewerben teilnehmen. "Das alles sind kleine Schritte", so Jabari. "Aber es geschieht etwas."