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In der Schwäbischen Türkei

Von Georg Heilingsetzer

Reflexionen
Kellergasse im Weinort Palkonya (deutsch Palkan), südöstlich von Pécs gelegen.
© Heilingsetzer

Unterwegs in einem kleinen Landstrich in Ungarn, der von deutschen Einwanderern geprägt wurde.


Vor einigen Jahren las ich zum ersten Mal von einem Gebiet in Ungarn, das die Leute die Schwäbische Türkei nennen. Der geheimnisvolle Klang zog mich an: Schon hatte ich einen schwäbischen Muezzin, der mich mit seinen Rufen, einer Mischung aus orientalischen islamischen Formeln und heimeligen alemannischen Diminutiven, vom Minarett einer Moschee aus gründlich gefertigtem Fachwerk in das unbekannte Land lockte, vor meinem inneren Auge. Da musste ich schmunzeln. Bevor ich noch zu erahnen versuchte, wie die Schwäbische Türkei zu ihrer Bezeichnung gekommen sein mochte, hatte ich mich entschieden, einmal dort hinzufahren.

Auf einer offiziellen Landkarte ist die Schwäbische Türkei nicht zu finden. Allerdings in den Geschichtsbüchern. Ich mache mich auf den Weg.

Nach der erfolglosen Belagerung Wiens 1683 und dem darauffolgenden Großen Türkenkrieg (1683-1699) mussten die Türken, deren Herrschaft über das Gebiet rund 150 Jahre währte, Schritt für Schritt aus Ungarn zurückweichen. Weite Ländereien fielen den Habsburgern in die Hände, deren kaiserliche Truppen in der Schlacht bei Mohács (deutsch Mohatsch) 1687 einen wichtigen Sieg gegen das osmanische Heer errungen hatten. In jenem Winkel, den die Drau im Süden, die Donau im Osten bilden und der im Nordwesten vom Plattensee zu einem Dreieck geschlossen wird, der Schwäbischen Türkei, waren freilich weite Landstriche verwüstet, verödet, versumpft und entvölkert worden.

Südtransdanubien

Der Begriff "Schwäbische Türkei" spiegelt die starke Verbundenheit der Deutschen mit dem Gebiet wider, das im 17. Jahrhundert, als es von den Türken besetzt war, als "Törökország", also Türkei, bezeichnet wurde. Das Adjektiv "schwäbisch" kam später nach der Einwanderung, vorwiegend aus Südwestdeutschland bis zur Rhön, hinzu. Auch Schwaben kamen in dieses Gebiet, das heute mit einer Fläche von rund 15.000 Quadratkilometern die Komitate Tolna (Tolnau), Baranya (Branau) und Somogy (Schomodei) umfasst, an. Die Schwäbische Türkei, deren Grenzen historisch nicht konstant waren, ist die größte deutsche Sprachinsel im heutigen Ungarn.

Hauptmotiv für die Auswanderung der deutschen Migranten, häufig arme Häusler, Handwerker oder Kleinbauern, für deren Rekrutierung Werber ausgeschickt wurden, war nach Missernten und Kriegsfolgen in der Heimat, stets das Vertrauen in eine bessere Existenz, die Aussicht auf eine Verbesserung der persönlichen Lebenssituation, denn man konnte die Zuteilung von Grund und Boden, allerhand Privilegien, einen Arbeitsplatz oder den sozialen Aufstieg erwarten.

Hinterlassenschaft der Türkenzeit: Moschee des Pascha Jakowali Hassan, an der Ringstraße um die Altstadt von Pécs gelegen.
© Heilingsetzer

Die deutsche Einwanderung erfolgte in unterschiedlicher Intensität vom Ende des 17. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Im Laufe von zwei Jahrhunderten entstanden bis zur Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts mehr als 200 deutsche Siedlungen in Südtransdanubien, wie die Region auch bezeichnet wird.

Den ersten großen Bruch im Zusammenleben der Ungarn und Ungarndeutschen stellte die Zwischenkriegszeit dar. Zwar hatte sich unter großem Magyarisierungsdruck auf Staats- und Schulebene nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland im Jahr 1933 in Ungarn die "Volksdeutsche Kameradschaft", die später im "Volksbund der Deutschen in Ungarn" aufging, gebildet, doch standen auch viele Ungarndeutsche, die seit zwei Jahrhunderten friedvoll mit anderssprachigen Menschen zusammengelebt hatten oder im Austausch gewesen waren, dem Nationalsozialismus kritisch gegenüber.

Aussiedelung

Der Zweite Weltkrieg bedeutete den zweiten großen Bruch für diese Koexistenz. Bereits vor Kriegsende wurden Ende Dezember 1944 viele Ungarndeutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt, später begann nach Entnazifizierungsverfahren die Enteignung, Entrechtung und Verfolgung jener Deutschen, die dem "Volksbund" oder der "Waffen-SS" angehört hatten oder die ihre Treue zu Ungarn in den Kriegsjahren nicht unter Beweis stellen hatten können. Zwischen 1946 und 1948 wurde etwa die Hälfte der Ungarndeutschen aus Ungarn, das durch die Potsdamer Beschlüsse ermächtigt war, seine gesamte deutsche Bevölkerung auszusiedeln, aus ihrer Heimat ausgewiesen.

Die deutsche Minderheit ist mit rund 200.000 Personen die größte nationale Minderheit. In der Region rund um Pécs (Fünfkirchen) gibt es 110 Siedlungen, in denen eine deutsche Selbstverwaltung besteht. Pécs mit rund 150.000 Einwohnern ragt aus dem Siedlungsbild, das durch Dörfer und Kleinstädte gekennzeichnet ist, hervor - die Stadt fungiert seit der Römerzeit als administratives, wirtschaftliches, kulturelles und sakrales Zentrum der Region. Die Studentenstadt ist auch für das Kulturleben der Ungarndeutschen prägend, viele sind in den letzten Jahrzehnten aus den umliegenden Dörfern in die Großstadt gezogen.

Am Fuße des sogenannten Mecsekgebirges, nördlich von Pécs, befinden sich einige Dörfer, die noch eine überwiegend deutsche Bevölkerung aufweisen. Ich bewege mich durch eine rurale Landschaft aus sanften Hügeln, fruchtbaren Tälern, kleinen Becken und Furchen, in denen sich Bäche und Flüsse ihren Weg bahnen, und gelange nach Mecseknádasd (deutsch Nadasch), mit rund 1500 Einwohnern eine der größeren noch stark deutsch geprägten Gemeinden im Süden.

Ein großer Anteil der Bevölkerung ist deutschstämmig, und Deutsch blieb auch bei den nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Ungarndeutschen, die in Ungarn bis heute ungeachtet ihrer Herkunft aus vielen deutschen und habsburgischen Gebieten als "Schwaben" (ung. Svábok) bezeichnet werden, zumindest die dominierende Zweitsprache.

Hinweisschild des Heimatmuseums von Nadasch.
© Heilingsetzer

Das deutsche Dorf Nadasch entstand während der Regentschaft Kaiser Karls VI. ab dem Jahr 1718, als die ersten fränkischen Ansiedlerfamilien kamen. Die größte Ansiedlerguppe, mehr als 70 Familien, dürfte aus dem Fuhrmannsdorf Frammersbach, heute eine Marktgemeinde im Landkreis Main-Spessart in Unterfranken, gekommen sein. Von den betagteren Nadaschern wird heute noch eine Varietät jenes Frammersbacher Dialekts gesprochen, wie dieser Anfang des 18. Jahrhunderts geklungen haben mag.

Selbstverwaltung

János Krasz, ein Enddreißiger, führt das Restaurant "Trib". Seine Mutter, eine geborene Amrein, könne ihren Stammbaum bis zu den Einwanderern aus Frammersbach zurückverfolgen. "Ich bin die ersten zwei Jahre bei meinen Großeltern, die nur Schwäbisch sprachen, aufgewachsen, weil meine Eltern arbeiteten", erklärt János, der an diesem Abend mit ein paar Freunden die Geburt seines ersten Kindes bejubelt. "Mein Mädel wird natürlich Deutsch lernen", sagt er, der sich als "Ungar mit deutschen Vorfahren" definiert.

Grabsteine und Kirchlein auf dem Alten Friedhof von Nadasch.
© Heilingsetzer

Mit einem Besuch der beiden Friedhöfe, dem Alten Friedhof etwas außerhalb und dem Neuen Friedhof auf dem schönen Kalvarienberg im Ort, taste ich mich näher an die Geschichte der Siedler heran. Man erfährt anhand der Inschriften über die Arbeit, Kultur, religiöse Vorstellungen und Gedanken der Bewohner und den Wandel in der Bevölkerung.

Die deutschen Katholiken, die ihre Grundstücke zugeteilt bekommen hatten, bauten Wein an, konstruierten Mühlen und arbeiteten mit Holz, Stein und Lehm. Nebenbei besaßen die Handwerker Weingärten und Felder, um Lebensmittel, Wein und Futter für die Tiere herstellen zu können.

Szilvia Krasz-Auth ist Vorsitzende der deutschen Selbstverwaltung in Nadasch. Die 1978 geborene Ökonomin wurde für fünf Jahre in ihr Amt gewählt. Es gehe der Selbstverwaltung, die in eine Dachorganisation eingegliedert ist, darum, die deutsche Kultur zu bewahren. "Es wurde ein Lehrpfad eröffnet, es werden viele Veranstaltungen, unter anderem eine Vortragsreihe, durchgeführt, für die Kinder werden Mundart- und Prosawettbewerbe in der Grundschule gemacht. Wir unterstützen die Tanzgruppe, den Chor und die Blaskapelle, die für die deutsche Kultur etwas tun", erklärt Krasz-Auth. Seit Jahren gebe es einen Stammtisch in der Winterzeit, an dem sich vor allem ältere Leute einfinden würden.

"Wir treffen uns jeden Mittwoch am Abend in einem Restaurant. 30, 40 Leute kommen da zusammen und singen, vom Akkordeon begleitet, deutsche Volkslieder", erzählt der 70-jährige Pensionist Anton Schramm. Er leitete neben seinem Beruf als Tontechnikingenieur am Nationaltheater in Pécs die 1953 in Nadasch gegründete ungarndeutsche Tanzgruppe, die mit einer kleinen Kapelle ausgedehnte Tourneen durch die Dörfer der verschiedenen Komitate, nach Deutschland, Österreich und Holland sowie in benachbarte Länder durchführt.

Heute habe die deutsche Sprache sowohl im Kindergarten als auch in der Grundschule, wo die ungarischen und deutschstämmigen Kinder acht Stunden Deutsch in der Woche lernen, ihren Platz.

Adam Arnold und Maria Frank im sogenannten "Deutschen Haus" von Nadasch.
© Heilingsetzer

Adam Arnold, Jahrgang 1932, und Maria Frank, Jahrgang 1933, haben miteinander schon die Schulbank gedrückt. Auch jetzt sitzen sie im sogenannten "Deutschen Haus", das die Gemeinde Nadasch wie auch weitere Gebäude dem Chor, der Tanzgruppe und für andere Aktivitäten zur Verfügung stellt, nebeneinander. Sie wirken vertraut, sind aber nicht immer der gleichen Ansicht.

Maria Frank, die einer Nadascher Bauersfamilie mit landwirtschaftlichen Flächen und vier Weingärten entstammt, erzählt, sie sei hier geboren und habe immer hier gewohnt. Fast immer. Sie kommt im fränkischen Dialekt auf Ende April 1945 zu sprechen.

"Im Johr 1945 han sie schon die Schwobe gehasst. Da is eine Trommel durchs Dorf gangen, und die ham gesacht, jedes muss das Haus verlasse, die Türen darf man nicht abschließe, jedes muss auf den Marktplatz gehen. Aufs Glschloss Lendl [ung. Lengyel] hams uns, hams viele hunderte Schwobe neigetriebe. Zum esse nix, Wassernot. Mia hadde immer Durscht", schildert die alte Frau mit immer noch ungläubigem Entsetzen die Geschehnisse.

Auf Schloss Apponyi in Lengyel, das zuvor als Krankenhaus für sowjetische Soldaten gedient hatte, müssen unbeschreibliche Zustände geherrscht haben, als nach dem Zweiten Weltkrieg dort bis zu 20.000 Ungarndeutsche, vor allem alte Menschen, Frauen und Kinder, zusammengepfercht interniert waren, während ihre Häuser von Szeklern aus der Bukowina sowie Ungarn aus Nachbarländern, die von den Ungarndeutschen als die "Telepesch" (ungarisch Telepes, deutsch Siedler) bezeichnet werden, in Besitz genommen wurden.

Ausweisung & Rückkehr

Nach einigen Monaten in Nadasch, in denen Familie Frank mit "schlechten Rumänen und Ungarn" unter einem Dach lebte, sollte die Aussiedlung der Deutschen von dort erfolgen. Am 3. Juli 1946 wurde im ganzen Dorf verlautbart, dass sich die zur Aussiedlung vorgesehenen Menschen vorbereiten sollten, am nächsten Tag würden zwei Züge abfahren.

Es wurde die ganze Nacht gepackt, pro Person durften 80 Kilo Kleidung und 20 Kilo Lebensmittel mitgenommen werden. "Uns haben sie alles weggenommen, wir sind nur mit ein paar Bündeln fort. Drei Wochen waren wir im Viehwaggon bei großer Hitz’. Nach Österreich bis Haag waren wir ausgliefert, da ham sie uns nicht angenommen und wir sind wieder zrück nach Nadasch", erzählt Maria Frank.

Nach einer dreiwöchigen Wartezeit bei Haag, wo die Amerikaner die Weiterreise unterbanden, wurde den Auszusiedelnden mitgeteilt, dass sie zurück nach Ungarn müssten. Die Aussiedlung sei mit dem 1. Juli eingestellt worden, es dürfe kein Zug nach Deutschland weitergelassen werden. Also ging es zurück in Richtung Ungarn, wo die Ungarn die Vertriebenen wiederum nicht mehr einreisen lassen wollten. Nach einer Wartezeit wurde der Zug schließlich doch nach Kecel, jenseits der Donau in der Südlichen Großen Tiefebene, verwiesen, wo Pferdewagen warteten, die die Leute nach Hajosch (ungarisch Hajós) brachten. Dort konnten die Leute bei schwäbischen Familien unterkommen, ehe sie wieder nach Nadasch zurückkehrten.

Die ersten Jahre nach dem Krieg müssen, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, die schwersten für die Ungarndeutschen gewesen sein. "Nach dem Krieg war erst eine schlechte Zeit. Wir Schwobe hadde koa Recht ned", erinnert sich der gelernte Steinmetz Adam Arnold, der mit seiner Frau in seiner "Muttersproch Schwobisch" rede. In den frühen 1950er Jahren sei es für die Ungarndeutschen wieder besser geworden, man habe ihnen wieder mehr vertraut.

Maria Frank kehrte ebenfalls aus Hajosch nach Nadasch zurück. Das Elternhaus, das sie erst viele Jahre später zurückkaufen konnte, war längst in fremdem Besitz. Sie konnte mit ihrer Familie bei einem Onkel im Haus der "ausgelieferten Oma" unterkommen. Viele "Telepesch" seien wieder aus Nadasch verschwunden, weil es ihnen hier zu hügelig gewesen sei.

Maria Frank hat noch etwas auf dem Herzen. Eine abenteuerliche Finte, die ihre Familie nach der Rückkehr aus Hajosch im Winter 1946/47 vor dem Verhungern bewahrt habe, möchte sie unbedingt erzählen. Vor der "Auslieferung" habe ihr Vater einem Mann im benachbarten Weiler Obánya ein neues Pferdegeschirr versprochen. Man vereinbarte, dass der Mann für das Stück bezahlen würde, sollte die Familie wieder in die Gegend zurückkehren, sonst könne er es behalten.

"Schöne Kindeszeit"

Die deutsche Ortschaft Nadasch, vom Kalvarienberg aus betrachtet.
© Heilingsetzer

"In Obánya wor einst a Mann gstorbe. Und in der Totetruhe hamma des Rossgschirr verstohlenerweis dort noi, und so hamma es nausgschwätzt noch Obánya. In der Totetruhe! Und dann san mia zurückkumme wieder, und der Mann, der war sehr anständig, der hat uns des ausbezahlt, und so han mia den Winter iberlebt", erzählt Maria Frank, die später in der landwirtschaftlichen Genossenschaft für kargen Lohn arbeiten musste und dann in einer Tischlerei "schaffte".

An ihre "schöne Kindeszeit" in einem Dorf, in dem der Zusammenhalt sehr groß gewesen sei, denkt Maria Frank wehmütig zurück. Der Umstand, dass der Großvater in der Nazizeit Ortsgruppenführer war, habe der ganzen Familie lange zum Nachteil gereicht, die Familie habe "viel Anstoß" erlebt. Ungarisch habe sie erst gelernt, als sie fast 14 Jahre alt war.

Am Sonntag ist die Nadascher Kirche gut gefüllt, Ungarn und Ungarndeutsche sitzen in den Bänken nebeneinander. Der Gottesdienst ist vorwiegend in ungarischer Sprache, das Evangelium wird zweisprachig gelesen, das letzte Lied in deutscher Sprache gesungen. An einem Sonntag im Monat wird der gesamte Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten.

Vor etwa 35 Jahren sei in der Schwäbischen Türkei von einer deutschen Fernsehanstalt eine Reportage gedreht worden, erzählt Adam Arnold. "Die Donauschwaben sterben langsam, aber sicher aus", habe das Motto des Films gelautet. Darüber kann ich nur fröhlich schmunzeln, als ich der Schwäbischen Türkei, die mir viele Geschichten über die hier noch immer fest verankerten Ungarndeutschen verraten hat, den Rücken kehre.

Georg Christoph Heilingsetzer, geboren 1977 in Linz, arbeitet im sozialpsychiatrischen Bereich sowie als freier Autor und Fotograf.