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Als die Maus den Kater fraß

Von Christian Teissl

Reflexionen
Vor 100 Jahren erstmals im Kino aufgetaucht, hält New York den Trickfilmkater bis heute in Ehren: Felix als Ballonfigur bei einer Macy’s Thanksgiving Day Parade.
© Getty Images/Noam Galai

Felix the Cat war ein Star des frühen Zeichentrickfilms. Bis der Tonfilm aufkam und ihm Mickey Mouse den Rang ablief.


Die Herkunft des Kinos aus der Jahrmarktattraktion, vom Vaudeville, von der Schaustellerei zeigt sich wohl nirgends so deutlich wie in den mit Kurzfilmgrotesken bestückten "Beiprogrammen" der frühen Lichtspieltheater. Über weite Strecken Importware aus den USA, gehörten sie auch hierzulande, kaum dass die Bilder laufen gelernt hatten, bald zum unentbehrlichen Bestandteil der Filmkultur und erfreuten sich ständig wachsender Popularität.

"Wie oft hat das kleine, anspruchslose Beiprogramm größere Befriedigung ausgelöst als das ihm nachfolgende große Drama. Wie oft war es der einzige Gewinn einer Kinovorstellung, da es eben nichts anderes wollte, als unterhalten, was ihm restlos gelungen ist", heißt es etwa in einer Wiener Kritik aus dem Jahre 1927. Hier, zwischen Wochenschau und Hauptfilm, war der Ort, an dem die großen Tortenschlachten geschlagen und die Wolkenkratzer aus dem Stand erklettert wurden, hier herrschten fröhliches Chaos und blühender Unsinn, hier wurde der Voyeurismus des Publikums nach Kräften bedient, seine Sensationslust gestillt - und wie nebenbei ein neues, vielgestaltiges Genre kreiert: das "Beiprogrammlustspiel", in der Regel nicht länger als zwanzig Minuten, handlungsarm und ereignisreich, eine simple Aneinanderreihung verwickelter Situationen, eine Suite von Katastrophen mit Finale furioso und gutem Ausgang.

Wandlungskünstler

Diese am Förderband produzierten Kurzfilmgrotesken beherrschte ein Gesetz: das der Serie. Bewährte Muster und Rezepte wurden ad libitum wiederholt und in endloser Variation abgewandelt. So konnte man bei jedem Besuch im Lichtspieltheater alten Vertrauten verlässlich begegnen: den badenden Schönheiten und dem schielenden Komiker, den kleinen Strolchen, Brownie, dem Wunderhund, und all den anderen Serienhelden. Wer zählt die Länder, kennt die Namen, aus denen sie zusammenkamen?

Der vielleicht größte von ihnen allen war eine Figur nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Papier und Tusche: Felix, der Kater. Nach Leonard Maltin, dem Verfasser von "Of Mice and Magic", einem Grundlagenwerk zur Geschichte des amerikanischen Zeichentrickfilms aus 1980, sind es vor allem zwei Merkmale, die Felix auszeichnen und seine Persönlichkeit bestimmen: sein tiefsinniger, nachdenklicher Gang, in den er immer dann verfällt, wenn er neue Ideen ausbrütet, neue Pläne schmiedet - den Kopf gebeugt, die Hände am Rücken zusammengefaltet -, und seine paradoxe Fähigkeit, sich jederzeit zu verwandeln, ohne sich dabei wesentlich zu verändern. Je nach Bedarf dient sein antennenartiger Schweif ihm als Baseballschläger, Angelhaken, Teleskop oder Spazierstock.

Kurzum: ein versatiles Talent. Keine Entfernung ist so groß, dass Felix sie nicht im Handumdrehen überwinden könnte, keine Wand so undurchdringlich, dass er sie nicht zu durchschreiten wüsste. Oft mangelt es ihm an den nötigen Mitteln, nie aber an einer Idee, die sogleich handfeste Gestalt annimmt. Er kann aus seinen eigenen Blicken eine Stufenleiter formen, an den Fragezeichen, die seinem Kopf entspringen, sich aus jeder Misere ziehen - und wenn kein anderes Mittel mehr hilft, entreißt er kurzerhand seinem Zeichner den Zeichenstift und verändert eigenhändig die Umgebung, in der er sich gerade befindet.

Sein Zeichner: Das war von Anbeginn und durch viele Jahre Otto Messmer (1892-1983), einer jener kreativen Köpfe des amerikanischen Animationsfilms, die erst im hohen Alter zu Ehren kamen, in jungen Jahren, in der Phase ihrer größten Kreativität jedoch weitgehend anonyme Arbeiter in den Tretmühlen der frühen Zeichentrickfilmstudios waren, wo im Akkord geschuftet wurde, blitzschnell und blindlings, wo ein Zeichner hundert Zeichnungen am Tag anzufertigen hatte, um sein Plansoll zu erfüllen.

Zwielichtiger Produzent

Im Vorspann sämtlicher Felix-Filme - und es gibt deren mehrere hundert, ein Gutteil davon blieb erhalten - steht immer nur ein Name: jener des Produzenten, Pat Sullivan. Gebürtiger Australier, eine abenteuerliche Existenz und ein zwielichtiger Charakter, war Sullivan schon in jungen Jahren nach den USA ausgewandert.

Wie alle namhaften Pioniere des amerikanischen Zeichentrickfilms hatte er als Cartoonist bei einer Zeitung begonnen, ehe er sich während des Ersten Weltkriegs auf das Gebiet der animierten Bilder wagte und in New York, dem damaligen Zentrum der aufkommenden Zeichentrickfilmindustrie, sein eigenes Studio gründete. Es etablierte sich rasch, und als es zu florieren begann, legte Sullivan den Zeichenstift zur Seite und konzentrierte sich auf die Vermarktung, posierte fortan nur noch für Werbefotos am Zeichentisch, überließ alle Tages- und Knochenarbeit Messmer und dessen Handvoll Mitarbeiter, ließ sich selten im Studio sehen, begnügte sich damit, es zu besitzen.

Welchen Anteil er an der Figur des Felix tatsächlich hat, die im November 1919, noch nicht unter dem gewohnten Namen, doch schon mit allen wesentlichen Attributen ausgestattet, erstmals das Licht der Kinoprojektoren erblickte, ist bis heute umstritten. Fest steht jedenfalls, dass diese Figur nicht als Serienheld konzipiert war, sondern lediglich als Protagonist eines fünfminütigen Lückenbüßers, der nach Ausfall eines anderen Zeichentricklieferanten für den Verleih der Paramount in Windeseile gezeichnet und produziert werden musste.

Verliebtes Debüt

Der Film ist eine verspielte Illustration der Redewendung "Wenn die Katze aus dem Haus ist, feiern die Mäuse Kirtag" und behandelt zugleich ein altes Motiv der Fabel- und Märchenliteratur: das des verliebten, törichten Katers, allerdings unter Verzicht auf jede in den Fabeln übliche Belehrung und unter lustvoller Verwendung rein visueller Mittel, die ans Surreale streifen. Als der Kater etwa seiner Angebeteten beim Rendezvous an der Mülltonne ein Ständchen auf der Mandoline darbringt, steigt ein Schwarm von Noten in die Luft, jeder von den beiden Liebenden angelt sich eine und sie formen daraus Tretroller, um darauf zweisam durch die Nacht zu rasen - die Notenköpfe werden zu Rädern, die Notenhälse fungieren als Lenkstangen.

Unterdessen plündern die Mäuse die unbewachte Vorratskammer. Eine von ihnen trinkt eine Flasche Milch aus und ihr Körper nimmt sogleich die Farbe der Milch an - einer der Überraschungseffekte, wie sie für die Felix-Filme kennzeichnend werden.

"Feline Follies" lautet der Titel dieses Debütfilms, zu Deutsch so viel wie "Katzentorheiten", zugleich eine Anspielung an eine der damaligen Hauptattraktionen des Broadway, die Revuen der "Ziegfeld Follies", Talenteschmiede und Sprungbrett für zahlreiche weibliche Gesangsstars. Sprungbrett - das war auch dieser kleine Film: Mit einem kühnen Satz sprang Felix, der Glückliche, ins Pantheon der Filmstars, und sein Produzent Sullivan ließ sich bereitwillig dafür feiern.

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Doch so geschickt er es auch verstand, seine Figur zu vermarkten, so wenig erkannte Sullivan Ende der 1920er Jahre die Zeichen der Zeit. Als alle Zeichentrickfiguren plötzlich Stimmen erhielten, blieb der Kater stumm. "Was geschieht eigentlich mit den alten stummen Filmen?", lautet anno 1931, als die letzten Felix-Cartoons auf den Markt kamen, in der Wiener Zeitschrift "Mein Film" die bange Frage eines Kinopianisten, der sich nun durch den Siegeszug des Tonfilms um sein Brot gebracht sieht: "Werden sie zerstört, oder liegen sie eingesargt, ein großer Friedhof rührender und heiterer Begebenheiten?"

Vom Film zum Comic

Ein schwacher Trost: Der Pianist, der seinen Platz im Lichtspieltheater räumen muss, weiß einen prominenten Schicksalsgenossen: "Armer Felix, du bist ein naturgeschichtlich merkwürdiger Fall, ein Kater, der von einer Maus gefressen wurde." Felix, der unberechenbare lonesome traveller, musste der geselligen und gefälligen Mickey Maus weichen, die Anarchie, die er in seinen besten Momenten verkörpert hatte, der arglosen, singenden, klingenden Fröhlichkeit von Disneys Maus. Ein Streik, wie der Kater ihn 1923 in dem Cartoon "Felix revolts" anzettelt, empört über die Ungerechtigkeit der menschlichen Ordnung, ist von der Maus wohl nicht zu befürchten...

Von der Leinwand verbannt, ging Felix ins Exil. Er fand es für die nächsten Jahrzehnte auf den Comicseiten der diversen Zeitungen und Magazine. So gut wie alle seine Vorgänger in der Geschichte des Animationsfilms - etwa Winsor McCays Little Nemo oder Rudolf Dirks’ Katzenjammer Kids - waren nichts weiter als animierte Comicfiguren gewesen, Felix hingegen, eine genuine Schöpfung des jungen Kinos, ging den umgekehrten Weg: vom bewegten zum gezeichneten Bild, von der Kinoleinwand zum Comicstrip.

Vom Ende der 1950er bis herauf in die frühen 1980er Jahre gehörte er auch im deutschsprachigen Raum, durch wöchentlich erscheinende Heftfolgen, zum ständigen Begleiter aller Comicliebhaber. Dabei nahm er allmählich kindgerechte Züge an, wurde, wie Bernd Dolle-Weinkauff in seiner Geschichte der deutschen Comicwelt nach 1945 bemerkt, zum "flinken Alleskönner" und "freundlichen Onkel", der mit seinen beiden Neffen Inky und Dinky harmlose Abenteuer besteht.

In seiner Heimat, den USA, mangelte es nicht an Versuchen, Felix als Zeichentrickfigur wiederzubeleben und sein subversives Potenzial erneut fruchtbar zu machen - der interessanteste war wohl die kurzlebige, für den TV-Sender CBS produzierte Zeichentrickserie "The twisted tales of Felix the Cat" (1995-97, zu Deutsch: "Die schrägen Geschichten von Felix the Cat"). Ein dauerhaftes Comeback jedoch blieb dem Kater bis zum heutigen Tage verwehrt.

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Christian Teissl lebt als Schriftsteller und Germanist in Graz.