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Sammelleidenschaft am Ende der Welt

Von Willy Puchner

Reflexionen
Stanniolpapier und Heftklammern, penibel gefaltet und abgetrennt . . . 
© Willy Puchner

Geschirrbürsten aus Plastik, Erinnerungen in Kuverts: Theresas Dinge sind ihre Freunde - und Wegwerfen ist verboten.


Theresa besitzt acht Einkaufstaschen. Manchmal stehen alle auf dem Küchentisch und gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Wenn sie in die Stadt einkaufen fährt, nimmt sie meist vier oder fünf davon mit und stellt sie auf den Rücksitz ihres Autos. Da stehen sie wie eineiige Vierlinge oder Fünflinge. In einer der Taschen befinden sich ihre Autopapiere und ihre Geldbörse. An der Kassa im Supermarkt kramt sie in den Taschen, um nach dem Geld zu suchen. Zuerst in der ersten, dann in der zweiten, der dritten, der vierten und schließlich in der fünften. Meist ist das Geld in der letzten Tasche. So will es das Gesetz des Suchens.

Theresa hat zehn Geschirrbürsten aus Plastik, neun sind grün, eine bildet eine Ausnahme: Sie ist rot. Die Bürsten stehen in einem leeren Gurkenglas neben dem Herd und wirken wie ein Strauß bizarrer Blumen. Jeden Tag verwendet sie eine andere Bürste, sagt Theresa, so kommt jede in einem Monat dreimal zum Einsatz. Das ist eine ihrer Theorien, doch da sie einander gleichen, weiß niemand, nicht einmal Theresa, wie oft die Bürsten tatsächlich in Verwendung sind.

Theresa besitzt auch eine große Anzahl von Messern, von denen sie etliche geerbt hat. Neben einem Brotmesser, einem Fleischmesser und einem Fischmesser hat sie in ihrer Küchenlade noch ein Hackmesser, einen Käsehobel, ein Wiegemesser und ein verziertes Obstmesser. Besonders stolz ist sie auf ihr Jagdmesser und das Tranchiermesser, mit dem sie Wild und Geflügel zerteilen kann.

Ein kleines Reich

Theresa hat auch viele Stoffe. Textilien, wie sie zu sagen pflegt. Zu ihrer Sammlung gehören Tücher und Stofffetzen, Stoffballen und Stoffreste. Viele Kästen sind mit Textilien gefüllt. Theresas Sammlung besteht aus unterschiedlichen Materialien: Wollstoffe, Jersey, Filzstoffe für Pantoffeln, Waschsamt, grobes und feines Leinen, Florentinertüll, Plüsch, Frottee für Handtücher, Gaze, Natur- und Wildseide und vor allem Baumwolle. Für vieles wird sie
irgendwann Verwendung finden, sagt sie, für Bettwäsche, Nachthemden oder Kleider. Die Stoffe sind in allen Farben und Qualitäten vorhanden und Teil von Theresas kleinem Reich, in das sie sich flüchtet, in dem sie ihre Phantasien verwirklicht.

Theresa besitzt beinahe alle Ausgaben der Gemeindezeitung und der Bezirkszeitung der letzten dreißig Jahre, die ihr mit der Post zugestellt wurden. Sie hat sie nach Monaten zu Paketen geordnet, diese mit einer Schnur zusammengebunden und in Regalen verstaut. Die älteren Exemplare stapeln sich in alten Kästen auf dem Dachboden und verändern mit dem Alter die Farbe. Unglücklich ist Theresa darüber, dass sie einige Einzelstücke vermisst. Sie weiß nicht, wo die während der Archivierung verlorengegangen sind.

Noch vieles andere sammelt Theresa: Gläser zum Einmachen von Obst und Gemüse, leere Flaschen, getrocknete Blumen, Lebensmittel, vor allem Pralinen und dunkle Schokolade, Seifen, Eierkartons, alte und neue Korken, Trinkgläser, Verschlussdeckel unterschiedlicher Größe und Kerzenreste. Besonders liebt sie die Muscheln und Steine vom weit entfernten Meer. Sie sammelt von allen Dingen immer noch eines in Reserve und noch eines in Reserve und noch eines, bis die Schachteln, Gläser, Regale und Kästen voll sind.

Theresa wohnt in einem kleinen Bauernhaus im südlichen Burgenland, an einem abgelegenen Ort ohne Namen. Das Haus steht am Waldrand, im Garten wachsen Obstbäume, Äpfel, Zwetschgen und Sommerkirschen. Dort lebt sie mit ihren tausend Dingen, die sie umgeben und beschützen. Wenn jemand auf Besuch kommt, scherzt sie, dass ihr Zuhause keinen Namen hat. Lächelnd sagt sie: Ich wohne am Ende der Welt.

Theresa ist Mutter von vier Kindern, allesamt Töchter und erwachsen. Die Älteste lebt mit ihrem Mann in Eisenstadt, die nächste mit einer unehelichen Tochter und einem Baby in Wien, eine weitere mit ihrem Freund in der Nähe von Salzburg. Die Jüngste ist unverheiratet, wohnt in ihrer Nähe und kommt regelmäßig zu Besuch.

Theresas Ehemann arbeitet als Bauarbeiter in Wien, wohnt unter der Woche in einer Dienstwohnung der Firma und ist jedes Mal entsetzt, wenn er am Wochenende das vollgeräumte Haus aufsucht; er empfindet es als einen Ort strotzender Schwermut, wuchernd und erdrückend.

Theresa indessen fühlt sich glücklich in ihrem Reich. Den ganzen Tag ist sie mit dem Ordnen der Gegenstände beschäftigt, schlichtet, verrückt sie von einem Ort zum anderen. Ihre Dinge sind ihre Freunde, ihre Vertrauten, die sie behütet und in Momenten der Angst vor Einbrechern verteidigen möchte. Sie hält sie zusammen wie ein Kutscher seine Pferde. Eine Alarmanlage, die mit dem Polizeirevier der nächsten Kleinstadt verbunden ist, gibt ihr in Augenblicken großer Sorge
Sicherheit.

Weihnachts-Stanniol

Ihre jüngste Tochter, Maria, kommt dreimal die Woche, schläft in ihrem Jugendzimmer und liebt ihre Mutter sehr. Anfangs versuchte sie ihre Mama noch zu ändern, mit deren Einverständnis ihre Sammlungen zu verkleinern, doch jeder noch so geringe Gegenstand, der verschwand, schmerzte Theresa so sehr, dass Maria ihre Aktivitäten einstellte. Später machte sie es heimlich, bis sie erkennen musste, dass ihr diese Anstrengungen keine Freude bereiteten. Kurze Zeit danach war das Haus wieder voll, und sie hatte den Eindruck, dass sich die Dinge umso schneller vermehrten, je mehr sie versuchte, sie zu verringern.

Schwierig wird es für die Familie, als Theresa in den regionalen Nachrichten erfährt, dass es wichtig ist, Müll zu trennen. Da sich mit den Jahren die Reklamesendungen vervielfacht haben, beginnt sie, penibel die Heftklammern der Werbebotschaften vom Papier zu trennen und in leeren Marmeladegläsern zu sammeln. Als Maria sie eines Tages bittet, einen Behälter voller Klammern in ihrer Wohnung als Schmuck- und Erinnerungsstück aufstellen zu dürfen, bekommt sie dieses zusammengetragene Material nur unter einer Bedingung: Sie muss versprechen, dass sie nichts -
absolut nichts - mehr von ihren Schätzen entfernen darf. Und dann folgt noch ein böser Satz: "Wenn ich einmal tot bin, kannst du damit machen, was du willst!"

Maria liebt ihre Mutter so sehr, dass sie ihr verspricht, nichts mehr wegzuwerfen. Zu Weihnachten bekommt sie dann, eingewickelt in grünes Geschenkpapier, das bis zum Rand mit Heftklammern gefüllte Glas.

Günther, Theresas Ehemann, hat lange nachgedacht, was er seiner Frau zum Festtag schenken könnte. Nach Arbeitsschluss stöbert er in verschiedenen Supermärkten und empfindet es als großes Glück, eine Einkaufstasche zu finden, wie sie Maria schon achtfach besitzt. Zufrieden denkt er immer wieder denselben Satz: Jetzt hat sie endlich alle neune!

Weihnachten ist für Theresa ein großes Fest. Sie liebt alles, was glitzert und funkelt und in Stanniolpapier eingepackt ist. Sie ist nicht am Inhalt, an den Süßigkeiten interessiert, nur an den plattgewalzten, mit einer dünnen Zinn- oder Aluminiumschicht überzogenen Folien. Wenn es raschelt und jemand in ihrem Umkreis Schokolade auspackt, steht sie daneben und wartet, bis ihr die kleinen Papierchen überreicht werden. Dann sitzt sie abseits und selbstvergessen an einem Tisch und reibt mit Daumen und Fingern das Papier glatt, bis es glänzt wie ein Spiegel.

Peinlich berührt war die Familie, als Theresa einmal bei einer Familienfeier von Tisch zu Tisch spazierte und alle Stanniolpapiere einsammelte, in denen Pralinen und Bonbons eingewickelt gewesen waren. Auch intensives Zureden ihres Ehemanns half nichts. "Ich glaube, du hast schon genug gesammelt!" Doch Theresa hatte noch lange nicht genug. Den Kopf gesenkt, saß sie in einer Ecke und streifte ihre Beute spiegelglatt. Verstohlen packte sie alles in ihre Einkaufstasche und steckte es zu Hause in eines ihrer Marmeladegläser.

Besondere Momente

Am wertvollsten für sie ist jedoch ihre Sammlung von weißen Umschlägen, die sie in einem versperrten Kasten in einem Geheimfach aufbewahrt. Den Schlüssel trägt sie Tag und Nacht an einem Lederband um den Hals. Noch niemand hat diese Sammlung gesehen oder weiß davon. Für Theresa ist es eine Art Tagebuch. In jedem dieser Kuverts sind besondere Momente aus ihrem Leben aufbewahrt. Auf der Vorderseite stehen Ort, Datum und Uhrzeit des Fundortes vermerkt. Drinnen sind alltägliche, aber auch kuriose Dinge:

Eine zweiseitige Einkaufsliste in deutscher Kurzschrift, die sie auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt gefunden hat. Eine Vogelfeder, der Theresa lange nachgelaufen ist und die sie zum Glück noch erwischt hat. Ein Büschel weißer Haare, das in einer Wasserlache lag und das sie auf dem Fensterbrett getrocknet hat. Ein kleines Stück Stoff, das mit Blutstropfen bekleckert war. Ein Zettel mit einer Telefonnummer, die sie immer wieder gerne angerufen hätte, wozu sie jedoch nicht den Mut fand ... und was hätte sie auch sagen sollen? Etwa: Ich habe Ihre Telefonnummer auf dem heißen Asphalt gefunden?

Ein Geldschein, der ganz eng zusammengerollt war, den sie immer wieder bügelte, bis er flach war und aussah wie eine Banknote, frisch aus der Druckerei. Eine Zeichnung, wahrscheinlich von einem Kind, worauf eine von vielen Gegenständen umgebene Frau zu sehen war. Der getrocknete Flügel einer großen Libelle; Theresa hatte eifrig das dazugehörige Tier gesucht, doch leider nicht gefunden. Die zusammengeknüllte Rechnung eines teuren Parfüms mit einem so unvorstellbar hohen Preis, dass sie nur den Kopf geschüttelt und sie schnell ins Kuvert gesteckt hatte. Eine alte Fotografie, vermutlich das Passbild eines hübschen jungen Mannes, in den sie sich ein wenig verliebte. Und noch vieles mehr ...

Die Kuverts sind chronologisch nach Datum geordnet. An manchen Tagen denkt Theresa, wer immer ihre verborgene Sammlung auch finden werde, wisse dann Bescheid über all ihre geheimsten Gedanken und Wünsche, auch über ihre ungestillte Sehnsucht, über ihr reiches und doch unbefriedigtes Leben. Und dann denkt sie weiter, dass das ohnehin niemanden interessieren wird, schließt den dunklen Kasten ab, versteckt den Schlüssel unter ihrem Pullover und fährt mit dem Auto auf und davon.

Willy Puchner ist Fotograf, Zeichner und Autor. Siehe auch: www.willypuchner.com